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Cancel Culture - Die Debatte hat sich gedreht

Nov 22, 202449 min
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Ein Vortrag des Literaturwissenschaftlers Adrian Daub

Moderation: Nina Bust-Bartels

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Es herrsche ein gesellschaftliches Klima, in dem freie Meinungsäußerung unmöglich sei, sagen die Erfinder der Cancel-Culture. Literaturwissenschaftler Adrian Daub erklärt, wie der Diskurs um diesen Ausdruck funktioniert und wie er sich gedreht hat.

Adrian Daub ist Professor für vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik an der Stanford University, wo er auch das Michelle R. Clayman Institute for Gender leitet. In seinem Buch "Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst" analysiert er die mediale Debatte um Cancel Culture. Seinen Vortrag "Was war Cancel Culture?" hat er am 12. Juni 2024 im Rahmen der Mittwochskonferenz des Forschungszentrums Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main gehalten..

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+++ Hörsaal +++ Deutschlandfunk Nova +++ Vortrag +++ Wissenschaft +++ Literatur +++ Literaturwissenschaft +++ Cancel Culture +++ Canceling +++ Political Correctness +++ Politische Korrektheit +++ Gesellschaft +++ Redeverbot +++ Debatte +++ Debattenkultur +++ Diskussion +++ Diskussionskultur +++ Alt-Right +++ Neo Cons +++ Neocons +++ Meinungsfreiheit +++ Redefreiheit +++ Wissenschaftsfreiheit +++ Demokratie +++ Vorwurf +++ Vorwürfe +++ Kritik +++ Kritikkultur +++ Polarisierung +++ Lagerbildung +++

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Quellen aus der Folge:

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Mehr zum Thema bei Deutschlandfunk Nova:

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Den Artikel zum Stück findet ihr hier.

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Transcript

Deutschland.nova. Deine Podcasts. Hörsaal. Heute mit Nina Bust-Bartels. Schön, dass ihr dabei seid. Erinnert ihr euch noch an die Debatte um Cancel Culture? 2020 und 2021 ging es da ziemlich hoch her. Eine sogenannte Evokeness wurde scharf kritisiert und die Befürchtung, bald gar nichts mehr sagen zu dürfen, beklagt. Seit etwa einem Jahr ist es ruhiger geworden und das liegt daran, dass sich der Diskurs transformiert hat. Das sagt zumindest unser Redner heute im Hörsaal.

Wir reden weniger von Cancel Culture und die Funktionen, die Cancel Culture als Wort einmal inne hatte, erfüllen mittlerweile andere Begrifflichkeiten. Was man vorher implizit verdammte, wird nun gefordert. Was vorher sorgenvolle Artikel hervorrief, ist nun das angeblich rettende. Was vorher schlecht war, ist nunmehr gut. Die Cancel Culture Warner haben innerhalb eines halben Jahres ihre Werte um 180 Grad umgewertet. Es geht mir um das Element der Selbsttäuschung.

Der Tatsache, dass man sich in diesem Sprachspiel als Gegenteil von all dem wahrnehmen kann, was man in Wahrheit ist und macht. Cancel Culture Panic war immer auch eine verzweifelte Verteidigung etablierter Hierarchien. Und das ist die neue Wendung des Diskurses unter fast umgekehrten Vorzeichen auch.

Adrian Daub ist Literaturwissenschaftler an der Stanford University und er beschäftigt sich mit Debatten um Cancel Culture. In seinem Vortrag beschreibt er, welche Funktion der Begriff erfüllt und er argumentiert, dass bestimmte Diskurse um linken Antisemitismus an Universitäten heute den Cancel Culture Diskurs ersetzt haben. Der Vortrag, den ihr jetzt hört, heißt Was war Cancel Culture? Und Adrian Daub hat ihn am 12. Juni 2024 gehalten und zwar am Forschungszentrum Historische Geist.

der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ja, tausend Dank für die Einladung. Ich freue mich sehr. Meine Aufgabe heute ist keine ganz einfache, denn die Analyse der Rede von Cancel Culture bezieht sich eben auf die jüngste Gegenwart. Der Begriff zirkuliert in deutschen Medien so ungefähr seit Juli 2019 und eine Rede von ihr als Vergangener wirkt fast ein bisschen paradox. Laut derer, die sie beklagen, grassiert sie ja immer noch und auch als Kampfbegriff gibt es sie immer noch.

Laut einer Umfrage von Infratest DIMAP vom Wahlabend der gerade vergangenen Europawahl gaben 86 Prozent der AfD-WählerInnen an, Angst zu haben, dass, Zitat, man bei Meinungen zu bestimmten Themen ausgegrenzt wird.

Form des Abfragens von Cancel Culture, würde ich sagen. Beim Bündnis Sarah Wagenknecht waren es immerhin 81 Prozent. Das heißt, die Angst, die dieses Wort ausdrückt, ist noch mit uns und sie bewegt Wählerschaften. Ob jetzt das die Wahlentscheidung mitträgt, kann man nicht sagen, aber die Vorstellung einer kulturellen Zensur gehört unter anderen eben Migration, Kriminalität.

oder Islam weiterhin zu einem sorgigen Gemenge, dass gewisse Wählerpotenziale antreibt. Und da ja auch Parteistrategen bekanntlich Umfragen von Infratest Dimap lesen können, kann es auch gut sein, dass der Begriff, den ich heute im Präteritum vorstelle, doch nochmal irgendwann eine Präsenzrenaissance erlebt. Zweitens legt die Coppola wahr natürlich die Existenz des Objekts selber nahe und genau das behaupte ich eben nicht. Es geht mir heute nicht um

um ein angebliches Ende von etwas, das klare et distincte vorliegt und das zu einem Ende gekommen sei, das mögen Sie möglicherweise so sehen. Ich sehe es, wie gesagt, nicht so. Das ist aber für meine Bemerkungen heute eher sekundär.

Ich gehe vielmehr von der Beobachtung aus, dass Cancel Culture als signifikant noch vor kurzem im politisch-medialen Diskurs in Deutschland und zu einem ähnlichen Grad in den USA sehr viel präsenter war, als es heute ist. Wir reden weniger von Cancel Culture und die Funktionen, die Cancel Culture als Wort einmal innehatte, erfüllen mittlerweile andere Begrifflichkeiten.

Mein Buch Cancel Culture Transfer ist erstens ein Plädoyer, die Geschichte des Signifikanten nicht mit der des von ihm Bezeichneten zu verwechseln. Und zweitens eine Analyse, was denn der Signifikant wirklich möglich macht, wenn wir dann eben voraussetzen, dass das von ihm ausgedrückte real vorliegt. Mir geht es, anders gesagt, um die Rede von der Cancel Culture, von dem, was man mit dieser Begrifflichkeit machen kann, was sie ermöglicht.

Und ich glaube, das lässt sich relativ klar nachweisen. Ich meine, dass die Bezeichnung Cancel Culture nicht wirklich die ausreichende analytische Schärfe aufweist, um für eine Beschreibung unserer Gegenwart wirklich zu taugen. Aber das mag Ermessenssache sein.

Was keine Ermessenssache ist, ist hingegen, dass in den letzten Jahren Hunderte, Jahrtausende Artikel zu dem Thema erschienen sind, dass das Wort in Fernsehen, Journalistik und im politischen Diskurs eine enorme Sprengkraft entwickelt hat und dass PolitikerInnen von Singapur bis Florida, von Buenos Aires bis Paris ihr mit Gesetzesentwürfen entgegentreten wollen oder wollten. Zweitens glaube ich, dass man mir...

hoffentlich zugestehen wird, dass diese Verwendung im letzten halben Jahr, zumindest in bestimmten Ländern, an eine Art Ende oder eine Art Wendepunkt gekommen ist. Der Begriff ist seltener geworden. Aber mehr noch scheint die Logik, die ihm häufig implizit innewohnte, einigen Veränderungen unterworfen zu sein. Dies erlaubt, so meine heutige These, einen Blick zurück. Was war dieser Begriff? Wie funktionierte er und warum? Warum wurde er ersetzt?

In meinem Buch habe ich versucht zu zeigen, dass in der Rede von Cancel Culture eigentlich der Diskurs über politische Korrektheit eine Neuauflage erfährt. Auch diese ist eine Neuauflage früherer Diskurse. Die Kette solcher Diskurse lässt sich zumindest in den USA relativ weit in die Vergangenheit verfolgen, allerdings nicht endlos. Es gab eine Zeit vor diesen Diskursen. Sie stellen keine invarianten demokratischen Zusammenlebens dar.

Es bedurfte, das versuche ich in meinem Buch zu zeigen, einer ganz spezifischen geschichtlichen und politischen Konstellation, um diese Kette loszutreten. Und ihre Kontinuität bildet eben auch die Kontinuität der Infrastruktur ab, die sich mittlerweile von ihr nährt und die sie nährt. Ich nehme an, dass mein nächster argumentativer Schritt ein bisschen Kritik hervorrufen wird.

Ich argumentiere nämlich, dass seit dem 7. Oktober und dem barbarischen Überfall der Hamas auf Israel das Framing von Cancel Culture einen weiteren solchen Übergang durchgemacht hat. Und zwar hin zu einer Warnung vor linkem Antisemitismus, vor linkem intersektionalen Woken-Antisemitismus. Damit ist wohlgemerkt...

Erst einmal nichts weiter gemeint, als dass ein Text, der sagen wir im Dezember 2023 mit linken Antisemiten in den sozialen Netzwerken, an US-Campussen, in linksgrünen Bubbles und unter queeren Menschen mit blauen Haaren ins Gericht ging, im August 2023 genauso hätte erscheinen können, nur eben damals als Wokenesskritik, als Klage über Zensurzwänge, als Zurückweisung eines übergriffigen Staates. Alldessen also.

was eigentlich heute implizit oder explizit gefordert wird, wenn dieselben Akteure auf Universitäten oder in die sozialen Netzwerke schauen. Ich kann mir vorstellen, dass das ein paar Beispiele erfordert. Hier ein Zitat, bei dem man den Übergang, glaube ich, sehr schön erkennen kann. Dieser Text stammt aus der Zeit, erschien am 19. Oktober 2023 und stammt von der Autorin Anna Mayer. Und ich zitiere.

Die postkoloniale identitätspolitische postmoderne Linke tut sich schwer damit, den Terror der Hamas gegen Israel zu verurteilen.

Es handelt sich laut der Überschrift um eine Denkschule, aber das begleitende Bild zeigt die eritreisch-deutsche Rapperin Nura, die mit einem Free Palestine Poster posiert hatte und deswegen vom Fernsehkanal ProSieben ausgeladen worden war. Die Anekdote zeige, so die Autorin, Zitat, dass die Denkschule, zu der Nura gehört, die manche Beobachter abfällig als Wokeness beschreiben, an ihr theoretisches und ihr praktisches Ende gekommen ist. Zitat Ende.

Es gibt hier viel zu beachten, aber ich beschränke mich auf drei Punkte. Erstens fällt der Adjektiv-Wust auf, mit dem die Linke hier verbunden wird. Andere Texte der Zeit, aber eben nicht in der Zeit, setzen normalerweise noch mehr dazu. Also es ist nicht nur intersektional, identitätspolitisch, postkolonial und postmodern, sondern eben auch linksgrün, queerfeministisch oder ähnliches.

der mangelnden Präzision einmal abgesehen, hier werden eindeutig die Karten neu gemischt. Die frühere Hauptkritik, die Wokeness, wird zur problematischen Ursache einer neuen Hauptkritik, nämlich das Sich-Schwertun damit, den Terror der Hamas zu verurteilen. Zweitens fällt auf, dass dieser Artikel vornehm davon Abstand nimmt, eine Denkschule

Zitat, abfällig als Wokeness zu beschreiben, aber eigentlich natürlich genau das tut. Es handelt sich um einen einigermaßen abfälligen Artikel über Wokeness. Das ist die zweite wichtige Wollte. Wokeness, Intersektionalität oder auch Gender geraten nicht mehr als sie selber in den Blick, sondern als Hintergrund zu einer weitaus schlimmeren Verfehlung. Nur, und das ist wichtig,

dass der Text eigentlich bei der Kritik dieses angeblichen Hintergrunds stehen bleibt. Es handelt sich weiterhin um einen Anti-Wokeness-Text, nicht um eine Reflexion über Antisemitismus. Drittens aber ist mir für das Folgende und für die Behauptung, dies laufe eigentlich auf ein Weiterführen der Cancel-Culture-Debatte unter neuer Etikettierung, eine Sache sehr, sehr wichtig. Mayer beschwört, wie dutzende Texte auch, das, Zitat, theoretische und praktische Ende.

Nur wird diese Abschwörung seitdem ungefähr wöchentlich wiederholt. Und diese Tatsache, also dass die Theorie an ein offensichtliches Ende gerät, aber trotzdem jede Woche noch einmal im Feuilleton durchgearbeitet werden muss, ist für mich die zeitliche Schiene der Cancel Culture-Debatte, die sich hier einfach weiterläuft. Einfach als ein Beispiel.

Was ist der berühmte Free Speech Bus, der in Frankreich rumfuhr 2017? Und da haben sie das Zitat, die Gendertheorie gibt es gar nicht und doch kehrt sie immer wieder zurück. Und das war also ein Bus, mit dem Konservative in Frankreich die angebliche Transideologie in französischen Klassenzimmern bekämpfen wollten. Die Temporalität ist mir hier wichtig. Eine Temporalität, nach der etwas offensichtlich nicht mehr existieren kann.

Und dennoch weiterläuft. Und das markiert diesen Diskurs als Fortsetzung von früheren Diskursen. Denn er erklärt ja, wie etwas angeblich offensichtlich Quatsch sein kann und man sich trotzdem in Artikel um Artikel über das betreffende Phänomen aufregen, vor ihm warnen, ja, es bekämpfen muss. Es erklärt erst, warum es diese ständigen Texte, warum die Wiederholung überhaupt sein muss, warum es diese Texte überhaupt gibt, ja, geben muss.

Ein zweiter Punkt, den ich hier anführen würde, um die Kontinuität von einem Diskurs aufs andere zu belegen, ist der Fokus auf den Campus, insbesondere den amerikanischen Campus. Diese Fixierung überrascht ein Stück weit, gerade in Deutschland. Es wirkt im Antisemitismus-Diskurs ein wenig unmotiviert.

Das erklärt sich, glaube ich, daraus, dass man eben hier weiterhin die Aufmerksamkeitsparameter der Political Correctness und Cancel Culture Diskussionen zugrunde legt. Nur, Cancel Culture Stories waren immer auch Geschichten über das deutsche Verhältnis zu den USA. Dass da Geschichten aus der UCLA oder aus Columbia wichtig sein könnten, ist ein Stück weit verständlich. Wieso aber sollen solche Geschichten Aufmerksamkeit verdienen?

wenn es etwa um das Verhältnis Deutschlands zu Israel geht. Die schnelle Abfolge der Texte, die Form der Evidenzsammlung und das rhetorische Framing basierten dann auch sehr klar auf denen, in denen Warnungen vor Cancel Culture normalerweise vorgetragen wurden. René Pfister, langjähriger Woknes-Korrespondent beim Spiegel, saß schnell im Oktober 2023 im Zug nach Harvard, um über die Antisemitismus-Kontroversen dort berichten zu können.

Er übernahm generell das Framing der Anti-Cancel-Culture-Warner. Ja, der Text las sich im Grunde genommen wie ein Kapitel aus seinem 2022 erschienenen Buch Ein falsches Wort. Das ist der Text, das im November 2023, Der Hass der schlauesten Köpfe.

Es geht um den Nahostkonflikt, schreibt Pfister, aber mehr noch um die Frage, ob die renommierteste Universität der Welt zu weit nach links gerückt ist. Und es ist weiterhin Pfister, der amerikanische Comedian Bill Maher nannte Harvard vor zwei Wochen den Wuhan Wet Market, der Ignoranz und der Wokeness, was man etwas freier ungefähr so übersetzen könnte, Brutstätte einer durchgeknallten linken Idee.

Dazu wurde immer wieder das Schreckbild postkoloniale Studien herangezerrt, die in den USA relativ marginal und in Deutschland, soweit ich das überblicken kann, fast noch marginaler sind. Es sollte ein Übertragungsjahr, der Vergleich mit dem Markt von Wuhan, an dem die Covid-19-Pandemie ihren Ursprung nahmen soll, es wohl auch so nahe legen, ein Infektionsparadigma.

angelegt werden. Auch dies ist ein semantisches Feld, das bei Cancer Culture und Bookismus-Diskussionen gerne angeschnitten wird, gerade in Frankreich. Hier zum Beispiel das Buch Bookisme, la France sera-t-il contaminé von Anne Toulouse. Ein drittes Beispiel für diese Kontinuität.

In meinem Buch habe ich darauf hingewiesen, dass der Diskurs um Cancel Culture davon lebt, dass er fast unmerklich zwischen Diagnosen von Zuständen in den USA und deutschen Zuständen changiert. Dass er den Kulturtransfer, der dem Buch den Titel gibt, voraussetzt, aber eigentlich nicht erklärt.

Ich würde behaupten, dass genau diese Form des unmerklichen Kippens sehr stark die Effektivität auch des neuen Diskurses über Antisemitismus an amerikanischen Colleges ausmacht. Man kann, wenn man über Cancel Culture oder konnte, wenn man über Cancel Culture klagte, sozusagen mehrmals im Satz das Standbein wechseln und verband damit zum Beispiel US-Phänomene mit spezifisch deutschen Befindlichkeiten.

Genau das ist genau im deutschen Diskurs über Antisemitismus gerade an amerikanischen Unis der Fall. Ich würde hier nur auf einen Satz von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger verweisen, die sich verstört zeigte über Protestcamps an Unicampussen, wie sie sagte. Zitat, das Ausmaß an Israel- und Judenhass an zahlreichen westlichen Universitäten ist unerträglich.

So die Ministerin. Das war wohlgemerkt einen Tag bevor das Protestkampf an der Freien Universität entstand. Das heißt, finde ich zweierlei interessant. Die Ministerin dachte eindeutig an amerikanische Campusse, als sie ihren Satz sprach. Und zweitens präzisierte sie das nicht. Ich will wohlgemerkt keine Täuschungsabsicht unterstellen. Ich nehme ihr das Erschrecken absolut ab. Der Punkt ist, dass ein Gefühl der Distanz verloren ging. Die Bilder, die Stark-Watzinger von der Columbia University sah,

fusionierten sozusagen unmittelbar mit Entwicklungen in Deutschland. Dieses Abhandenkommen eines Distanzgefühls, die Tendenz amerikanischer Entwicklungen unmittelbar mit der eigenen, doch etwas anderen Lebenswelt gleichzusetzen, institutionelle Geschichte und lokale Unterschiede einfach zu nivellieren, das war eben auch für den Diskurs über Cancel Culture unabdingbar.

Also ich hoffe, dass Sie mit diesen drei Beispielen, nach diesen drei Beispielen mir zumindest provisorisch zustimmen, wenn ich sage, bestimmte, ich wiederhole das, bestimmte Diskurse über linken Antisemitismus dieser Tage sind Neuauflagen von Kritiken von Cancel Culture.

in einer sehr ähnlichen Übertragungsform, wie diese Kritiken jeweils dann auch Neuauflagen von Klagen über politische Korrektheit waren. Also wir schauen diesem Diskurs bei einer weiteren Entwicklungsstufe zu. Ich will wohlgemerkt nicht darauf hinaus, dass diese Diagnosen unbedingt alle falsch sind. Ich befürchte, sie sind in der Tat größtenteils...

Aber das ist eine andere Kritik. Ich glaube auch, das werde ich in einem diese Woche erscheinenden Essay auch zu zeigen versuchen, dass die Klage über die Wokeness einfach in eine Klage über Antisemitismus umzumünzen, schon deshalb einigermaßen problematisch ist, weil letzterer eben...

allzu real ist und wir ihm, so wie wir ihn denn ernst nehmen wollen, wahrscheinlich nicht mit ein paar Kulturkampffloskeln begegnen sollten. Aber das ist, wie gesagt, heute nicht mein Thema. Mir geht es um den Übergang im Diskurs von der einen Begrifflichkeit zu anderen. In einem zweiten Schritt will ich heute zeigen, dass sich in diesem Übergang mehr vollzieht als eine Erneuerung der Begrifflichkeiten. Alte Koordinaten, die im Sprachspiel Cancel Culture wichtig waren, werden nicht etwa einfach übernommen.

Sie werden vielmehr umgekehrt. Diskursanalytisch muss man sagen, die Neuauflagen stellen die Debatte der letzten paar Jahre beinahe auf den Kopf. Und das, ohne dass wirklich der Widerspruch bemerkt würde. Ein paar Beispiele, die sind jetzt vor allem aus den USA.

John McWhorter hat seine Karriere als öffentlicher Intellektueller fast vollständig auf Campus- und Redefreiheitskontroversen aufgebaut. Er ist Linguist an der Columbia University, aber bekannt ist er als Kolumnist bei der New York Times und durch Bücher wie Woke Racism, How a New Religion Has Betrayed Black America. Er kritisiert seit Jahren die Litanei der Wokeness, die Safe Spaces, die Triggerwarnungen, die angeblichen Denk- und Redeverbote.

Auch unangenehme Meinungen, so McWhorters Grundtenor, gelte es, an einem Uni-Campus auszuhalten. Im April 2024, als Studierende in Columbia ein Protestcamp auf dem South Lawn der Uni in Morningside Heights errichteten, schrieb McWhorter einen Text in den New York Times, den Sie hier sehen. Dort beklagte er unter dem Titel I'm a Columbia Professor, the protests on my campus are not justice. Die Proteste seien eben weder friedlich noch ungefährlich. Hier zwei Zitate. Das zweite Zitat sagt...

These changes in moral history and technology can hardly be expected to comfort my Jewish students in the here and now. What began as intelligent protest has become in its uncompromising fury and its ceaselessness a form of abuse. Wie gesagt, McWhorter hat sich in den letzten zehn Jahren einen Namen gemacht, in dem er Folgendes kritisiert hat. Zitat Ende.

Worte seien aber, so McWhorter, aber nun mal keine Gewalt, kein Missbrauch. Sie seien nur Worte. Sie sehen, worauf ich hinaus will. Alles, wogegen McWhorter seit über einem Jahrzehnt Sturm läuft, scheint er in diesem Text zu fordern. Er will Safe Spaces. Er macht sich über Triggering-Gedanken. Er sieht in den Slogans, die er durch das halb geöffnete Fenster hört, eine Form der Gewalt, des Missbrauchs. Worauf ich eher nicht hinaus will,

dass McWhorter ziemlich klar nahelegt, dass Ängste über Safe Spaces eben damit nicht neutral und prinzipientreu waren, sondern ziemlich viel damit zu tun haben, ob man eine Meinung eben teilt oder nicht. Diese offensichtliche Konsequenz ist mir hier erst einmal egal. Mir geht es um eine noch offensichtlichere. McWhorter und andere, die ähnlich argumentieren, stehen mit dieser Umwertung nicht alleine da. Sie funktioniert für ein bestimmtes Publikum und eine bestimmte Art Denker.

Wieso? Das ist ein weiterer Text von John McWhorter von 2018 über College-Aged Coddling. Eine ganz andere Frage. Are we being too careful with the feelings of our college students? Sind die Gefühle unserer Studierenden vielleicht nicht ganz so wichtig, wie wir sie nehmen? Also genau die gegensätzliche Frage, die er sich im Text 2024 dann gestellt hat. Auch im Text von René Pfister zu Harvard findet man das sehr schön.

Das ist ein Interview mit einem Historiker und ich zitiere das einfach. Penzler lässt während des Gesprächs in seinem Büro die Tür zum Gang offen. In Harvard halten es die meisten Professoren so, weil sie vermeiden wollen, dass ihnen eine Studentin oder ein Student nachsagen kann, im Vier-Augen-Gespräch verbal oder gar physisch übergriffig geworden zu sein. Penzler hat manchmal selbst etwas Angst vor dem hypersensiblen Klima an der Universität.

Natürlich bin ich darüber besorgt, wie niedrig die Schwelle für verletzende Sprache geworden ist, sagt der Professor. Soweit René Pfister.

Bei den offenen Türen bei Sprechstunden in den USA handelt es sich gerade für Menschen wie mich, die sich professionell mit Campusgeschichten in amerikanischen und europäischen Leitmedien beschäftigen, um einen liebgewonnenen alten Freund. Es handelt sich um einen etwas in die Jahre gekommenen Topos, der Klage über die neue Zensurwut an amerikanischen Unis. Die Frage, warum man diese Klage über den Feminismus in einen Text über Antisemitismus einbaut, ist eine gute.

Aber der Lapsus kaschiert eigentlich noch mehr. Fisters alte Masche ist es, dem amerikanischen Campus Hypersensibilität vorzuwerfen. Er bleibt dieser Masche auch hier treu. Nur, dass er in diesem Text ja eigentlich das Fehlen von Sensibilität gegenüber verletzender Sprache beklagt. Fister ist in Harvard, um mehr Hypersensibilität einzuklagen. Er hat in seinem Buch, wie gesagt, das Klima in den USA beklagt.

und dass insbesondere der offene Diskurs an den amerikanischen Universitäten zu ersticken drohe. Nun verwendet er Evidenz wie, Zitat, an der Universität werden Scherz von Studierenden herumgereicht, in denen antisemitische Sprüche geklopft werden. Zitat Ende. Die Sorge um das eine falsche Wort, das seinem Buch noch den Titel gab, scheint einigermaßen verpufft. Ein weiteres Beispiel.

Ein Videobeitrag der Welt mit dem Titel Jüdische Studenten fühlen sich bedroht. Es ging um das Protestkamp an der Columbia Universität, der unter anderem ein Interview mit einer jüdischen Studentin beinhalte, die sagte, sie sei seit Tagen im Protestkamp und habe sich nie bedroht gefühlt. Auch hier geht es mir weniger um die Tatsachen als um ihre mediale Aufbereitung.

Denn sich bedroht fühlen war auch in der Welt bis ungefähr Oktober 2023 eigentlich nicht etwas Legitimes. Es geht mir darum, einen Widerspruch zum rhetorischen Framing der letzten fünf bis sechs Jahre aufzuzeigen. Das spezifische Interesse an und die spezifische Investition in das Sicherheitsgefühl von Studierenden, wobei diesen eine Gruppen- oder identitätsbasierte Position

unter anderem in diesem Fall eben eine Identifikation mit Israel, einfach zugeschrieben wird, das ist etwas, was in deutschen Medien eigentlich einen sehr, sehr negativen Läumund hatte, bis ungefähr 2023. Wie nennt man das, wenn nicht Identitätspolitik? Ich meine das nicht als Kritik. Ich verteidige bekanntlich identitätspolitische Ansätze und würde das auch hier tun. Es ist für mich legitim, sich darüber Sorgen zu machen, wie jüdische Studierende sich in Kolumbia fühlen.

Das Interessante ist eben, dass ich das hier in Deutschland nochmal genau sagen muss, weil man normalerweise Identitätspolitik liest und weiß, es ist eigentlich negativ gemeint. Das soll man nicht gut finden. Und hier wird einfach diese Polarität schnell kassiert und tatsächlich umgedreht. Ich weiß nicht genau.

ob Sie diesen Diskurs in der Akribie verfolgt haben, wie ich das tue. Das ist so ein bisschen die Deformation professionell, wenn man so ein Buch geschrieben hat. Aber ich hoffe, Sie glauben mir, wenn ich beteure, dass ich hier nicht irgendwelche Beispiele rausgepickt habe. Mehr oder weniger klar lässt sich dieser Widerspruch bei den meisten wichtigen Trägern des Cancer Culture Diskurses finden.

Es gibt Gegenbeispiele natürlich. In Deutschland wären da etwa die Philosophin Susan Nehmen, die Autorin Eva Menasse oder der Weltjournalist Denise Jücel zu nennen. Bei vielen, vielen anderen aber gilt, was man vorher implizit verdammte, wird nun gefordert. Was vorher sorgenvolle Artikel hervorrief, ist nun das angeblich rettende. Was vorher schlecht war, ist nunmehr gut. Die Cancel Culture Warner haben innerhalb eines halben Jahres ihre Werte um 180 Grad umgewertet.

Ich werde jetzt nicht behaupten, dass das nicht als Kritik gemeint sei, aber es geht mir primär nicht darum, dass ich hier eine gewisse Inkonsequenz vermute. Es geht mir vielmehr um die Bedingungen der Möglichkeit. Denn so desorientierend diese Umschwünge auf einen kritischen Beobachter wie mich wirken, sie scheinen für viele andere Menschen ja eine enorme Plausibilität zu haben. Ja, sie scheinen diese abenteuerlichen Reorientierungen noch nicht einmal als Umschwünge wahrgenommen zu haben. Wie kommt es dazu?

Ich werde diese Entwicklung in drei Schritten zu beschreiben versuchen, die nicht unbedingt sequenziell zu verstehen sind, sondern die vielmehr längere Zeit nebeneinander herliefen. Bei allen drei handelt es sich um eine oszillierende Hin- und Wegbewegung von Universalität. Also eine Universalität, die sich unbemerkt partikularisiert, nur um dann ebenso unbemerkt wieder zum Universalen zurückzufinden. Das klingt jetzt sehr abstrakt, ich hoffe, ich kann das ein bisschen präzisieren.

Denn erstens betrifft das eine Verschiebung von einer angeblichen Praxis zu bestimmten Menschen, genauer bestimmten Sorten von Menschen, die mit dieser Praxis identifiziert werden. Dies war im Cancel Culture Begriff immer schon angelegt. Canceln soll ja einerseits eine nahezu universelle Praxis unserer sozialen Medien sein, aber andererseits ist sie mit ganz bestimmten politisch-sozialen Projekten verknüpft.

Das ist auch ein Grund, warum ich hier in meinem Buch vom Begriff der moralischen Panik ausging, den der Soziologe Stanley Cohen in seinem Buch Folk Devils and Moral Panic Anfang der 70er Jahre prägte. In gewisser Weise ist sowohl die Verbindung einer Panik mit bestimmten Menschen oder Menschentypen, als auch die Tatsache, dass so getan wird, als findet diese Verbindung nicht statt, als gehe es um...

Alle möglichen Sorten von Menschen ist nicht nur um diese Menschen ein Grundmuster in jeder moralischen Panik. Denn in ihr wird ja ein marginales Phänomen entmarginalisiert. Dabei wird angeblich oder tatsächlich gesellschaftlich breit vorhandenes Verhalten problematisiert, aber bevorzugt festgemacht an einer bestimmten Gruppe. Denken Sie an Heavy Metal. Ganz verschiedene Menschen hören Heavy Metal, spielen Killerspiele.

sind handysüchtig oder sowas. Aber die Panik macht das Verhalten implizit oder explizit an ganz bestimmten Menschengruppen fest, die sozusagen dafür einstehen müssen, was das Phänomen angeblich generell anrichten kann.

Wenn wir uns etwa über TikTok-Sorgen machen, schauen wir diese Tage auf die Wahlergebnisse unter Wählern 16 bis 24, nicht auf die Wahlergebnisse in Sachsen zum Beispiel. Das ist kein Zufall. Wenn eine Untergruppe einstehen soll für ein universales Problem, das wir nicht universalisieren wollen, sind die betreffenden Menschen in der Regel jung und kommen in der Regel selber nicht zu Wort. Moralische Panik ist in der Tendenz eine Rede über, nicht eine...

Selbstanklage zum Beispiel. Selbst wenn der warnende Polizist, Politiker oder ähnliches sich selber als Teil des Problems bezeichnet, liegt das Kernstück des Problems ziemlich verlässlich bei anderen. Auch ich schaue zu viel aufs Handy, aber richtig gefährlich wird es ja nicht bei mir, sondern bei anderen, normalerweise Jüngeren. Canceln als Sorge hatte mit der äußerst legitimen Angst über unsere vernetzte Welt zu tun.

um das Öffentlichsein im Online-Zeitalter, um Arbeitsverhältnisse und die Leichtigkeit, mit der diese mittlerweile aufgekündigt werden kann. Aber sie hatte eben nicht mit allen Teilen der vernetzten Welt oder unserer Arbeitswelt gleichwertig zu tun. Nicht alle Spielarten des Online-Lebens waren gleichwertig unter Cancel-Verdacht. Man denke zum Beispiel daran, wie schnell die Klage über Cancel-Culture mit der angeblichen Knebelung des alten weißen Mannes zusammengebracht wurde. Das war eine ganz bestimmte Verortung des Problems.

in einem ganz bestimmten Segment der Bevölkerung. In den letzten zwei bis drei Jahren wurde diese Entwicklung, die wie gesagt der moralischen Panik als solcher wahrscheinlich eignet, noch einmal verstärkt durch einen Begriff, der vor allem in Frankreich zeitgleich mit Cancel Culture reüssierte und dort noch sehr viel mehr Durchschlagkraft entwickelte als die Rede vom Canceln, und zwar Woke. Aus noch relativ nebulös definierten Cancelern wurden die Woken.

Und es wurde dadurch noch einmal enger umgrenzt, wer denn nun eigentlich als Feindbild zählte und wer ausgenommen war oder, sagen wir mal, zumindest nur sekundär tangiert war von der Kritik. Was im Umkehrschluss immer mehr suggerierte, dass wer nicht woke war, auch nicht canceln konnte.

Sie mögen mir antworten, man rede doch auch immer wieder von der Cancel Culture von rechts. Aber ich würde zu Bedenken geben, dass der Zusatz von rechts ja im Grunde genommen schon zugibt, dass Cancel Culture normalerweise nicht von dort herkommt. René Fiss, das Buch, das ich bereits erwähnte, Ein falsches Wort, hat in der Tat ein ganzes Kapitel, der sich unter anderem mit Chris Rufo und Ron DeSantis beschäftigt. Der Titel ist Cancel Culture von rechts. Das ehrt ihn natürlich. Nur hat das Buch eben den Untertitel, der sagt, dass es sich um ein linkes...

Phänomen handelt. Das ganze Buch beschreibt Cancel Culture von links. Dann haben wir ein Ausnahmekapitel, in dem es um Cancel Culture von rechts geht. Und es gilt genauso für französische Texte zum Murkismus. Es hat auch immer die Tendenz, dass man sagt, ja, das kann eigentlich bei jedem passieren. Das gibt es überall. Es gibt es natürlich auch von rechts, aber das Framing ist ganz eindeutig. Es handelt sich um eine linke Diskursform, für die es, sage ich mal, Ausnahmeerscheinungen auch auf der Rechten gibt.

In meinem Buch habe ich mehrfach betont, dass ich die Alibi-Funktion von der Rede von Cancel Culture für wichtiger halte als die Kampfbegriff-Funktion. Was meine ich damit? Es geht nicht eigentlich darum, die Erregungen der anderen zum Problem zu erklären, also die jungen AktivistInnen, die auf Twitter irgendwas sagen. Es geht eher darum, die eigene Erregung als Problem aus dem Blick wischen zu können.

Insofern war die Rede von der Cancel Culture wahrscheinlich immer schon implizit eine Art Ermächtigungsgeste. Wer sich fragt, warum Menschen die Ausladungen an gedrohte Exmatrikulationen, abgesagte Tagungen als Anfänge behandelten, denen es zu wehren galt, nun plötzlich Ausladungen, Exmatrikulationen und die Absage von Tagungen fordern, der benennt eigentlich keinen Widerspruch.

Denn es ging darum, die eigenen Zensurwünsche unsichtbar zu machen oder zur Reaktion verklären zu können. Das Sprachspiel lebte, wie ich im Buch schreibe, immer schon davon, die formale Gleichheit von Gleichem nicht anerkennen zu müssen. Canceln war, so die, die vor Cancel Culture warnten, keine echte Streitkultur. Die Debattenbeiträge der Woken waren keine Beiträge zu Debatten.

Ihre Meinungen waren zwar marginal, schrullig und liefen dem Common Sense entgegen, waren aber trotzdem nicht mutig, heterodox oder kühn. Es wurden im Rahmen der Cancel Culture Diagnose

eigentlich immer solche Differenzen gezogen, die die Imperie kaum hergab, sondern nur die extreme rhetorische Verbrämung. Daher auch der Erfolg dieser Texte im Feuilleton. Dass das vor allem dazu gut war, dass man selber einigermaßen autoritär reden durfte, einigermaßen Autoritäres fordern durfte, ohne sich dafür als autoritär verstehen zu müssen, hat unserem gegenwärtigen Moment stark zugearbeitet. Diese Form der Selbsttäuschung ist zentral.

für den Erfolg des Cancel Culture Narrativ. Es reüssiert nämlich nicht, weil es falsch beschreiben hilft, was andere tun, sondern weil es vor sich selbst verheimlichen hilft, was man eigentlich selber macht. Die Woken funktionierten dafür perfekt. Hatte der Begriff der Cancel Culture schon etwas Hyperreales, eine Eindeutigkeit, die die Empirie nie wirklich hergab, waren die Woken noch einmal präziser imaginiert, aber eigentlich noch schwerer definierbar.

Sie waren noch weiter weg. Sie waren noch fremder als die Canceler. Konnte man sich beim Canceln ab und zu noch erschrocken fragen, oh, mache ich das vielleicht auch, war man bei der Wokeness per Definitionem nicht mehr Teil des Problems. Weiterhin muss man betonen, dass Wokeness oder Wokisme nicht als einzelnes Wort seine Wirksamkeit entfaltete, sondern, wie der Politologe Alex Mahoudot in seinem Buch La Panique Woke zeigt, in einer ganzen Konstellation von leeren Signifikanten.

Die Begriffe auf Mahoudos Liste, also zum Beispiel Antigenisme, Islamogochisme, Kommunitarisme, Neofeminisme, Antisektionell, Politikment Correct oder eben Cancer Culture, sind nie miteinander identisch. Ihre Bedeutungen sind aber auch nicht klar voneinander geschieden. Es handelt sich um...

Brückenbegriffe, die Verschiedenes wie in einer Klammer zusammenhalten sollen und die ihre Fähigkeit, dies auch zu leisten, von den jeweils anderen Begriffen in der Konstellation beziehen. Auch hier scheint der Nutzen des Sprachspiels der zu sein, dass man sich selber von Kritik ausnehmen kann. Klar, man mag Forderungen stellen, die ein wenig wie Cancel Culture aussehen, aber man ist ja nicht politisch korrekt und insofern kann es auch nicht stimmen und so weiter.

Das ist also das erste Beispiel für einen Universalismus, der einen Partikularismus ausartet und dann doch immer wieder zum Universellen zurückfindet. Eine zweite Ebene, wo das passiert. Das ist eine identitätspolitische Wendung anti-identitätspolitischer Attitüden. As a mouthful, wie man auf Englisch sagt. Es soll nichts weiter bedeuten, als dass es eine Form der Identitätspolitik gibt, die eindeutig sich über...

die Zurückweisung von Identitätspolitik definiert. Das soll jetzt nicht bedeuten, dass jegliche Kritik an Identitätspolitik automatisch selber dieser Kritik anheim fiel. Das wäre ziemlich billig. Aber die Klage über Identitätspolitik, wie sie in den letzten fünf bis zehn Jahren gerade im Feuilleton oder im Sachbuch reüssiert, erlaubt ganz zentral, sich über eigene Argumentationsmuster nicht

klar werden zu müssen. Die erste Kritik an multikulturellen Kanones an amerikanischen Unis ging 1984 noch ganz selbstverständlich von der Prämisse aus.

dass die amerikanische Kultur eine abendländische, eine westliche und eine weiße sei. Diese Prämisse musste aber im Laufe der Zeit immer weniger ausgesprochen werden. Stattdessen wurde die ursprüngliche Behauptung, dass Identitätspolitik zur Spaltung der Gesellschaft führe, umgewichtet. Bedeutete die Spaltung für Ronald Reagans Bildungsminister Bill Bennett 1984 noch, dass sich die amerikanische Gesellschaft von ihren Wurzeln in der

westlichen Zivilisation sozusagen losmache und daher sich ihrer Identität beraube, ging es bald um den Rückzug von Minderheiten aus der Gesellschaft in Parallelidentitäten. In Büchern wie zum Beispiel Arthur Schlesinger's The Disuniting of America, Reflections on Multicultural Society von 1991, tritt die Identitätspolitik von Minderheiten in den Vordergrund. Die Angst vor der Schwächung der eigenen weißen Identität tritt sukzessive zurück.

Ab jetzt ist das Betonen einer weißen anglo-christlichen Identität Amerikas selber keine Identitätspolitik mehr. Identitätspolitik ist für andere oder von anderen. In Frankreich hat diese Oszillation eine ähnliche Geschichte.

Es war eine Faszination mit dem weißen, aufklärerischen, kolonisierenden Franzosentum, die in den späten 1980er-Jahren zuerst die Sorge vor Absonderungstendenzen insbesondere maghrebinischer Einwanderergruppen auf die Agenda setzte. Gerade in Frankreich konnte man in der Folge die Entwicklung dessen beobachten, was der Soziologe Joshua Paul als Anti...

identitäre Identitätspolitik bezeichnet hat. Eine Identitätspolitik eben, die ihre Identität als Negation aller Identitätspolitik versteht, die ihre eigene Identität und ihre eigenen Ansprüche geltend macht, indem sie vor der Identitätspolitik anderer warnt. Pauls Beispiel für diese Diskursform ist der Hashtag All Lives Matter, der Universalismus als Chiffre für identitäre Ansprüche kaschiert. Noch klarer wird diese Dynamik allerdings in Fällen auf der europäischen Rechten.

in denen Universalismus einer bestimmten ethnischen, kulturellen Gruppe ab und ebenso automatisch anderen Gruppen zugesprochen wird. Marine Le Pen's Rassemblement National bedient diese Form des Universalisme c'est moi äußerst geschickt. Aber auch der Anti-Islam-Diskurs der europäischen Rechten kommt eigentlich nicht mehr ohne diesen Topos aus. Das bedeutet, es handelt sich um eine Identitätspolitik, die als ihre Partikularität wahrnimmt, dass sie universalistisch denken könne.

das nicht. Ich führe das deshalb in dieser Breite aus, um einen ganz einfachen Punkt zu betonen. Die Rede von der Identitätspolitik schafft historisch seit den 1980er Jahren zwei Dinge auf einmal. Sie erklärt die Fixierung anderer auf ihre Gruppenidentität zum Problem und macht umgekehrt die eigene Fixierung auf die eigene Identität einigermaßen unsichtbar.

Es fällt auf, dass die Dynamik, nach der die partikulare Identität jüdischer, deutscher, französinnen und amerikanerInnen von rechten, rechtspopulistischen oder gar rechtsradikalen Gruppen als Garant oder Stellvertreter der eigenen partikularen Identität herangezogen wird, diese Dialektik der Sichtbarmachung und der Unsichtbarmachung im Grunde genommen perfektioniert. Indem man Identitätspolitik für andere macht, substituiert man für die angeblich geschützte Gruppe

klammheimlich die eigene Identität. Ich sage das wohlgemerkt als jemand, der identitätspolitische Ansätze

nochmal, durchaus für konstruktiv hält. Ich halte es nicht für besonders schlimm, wenn Solidarität auch ein gewisses Maß Narzissmus innewohnt. Das ist nicht schlimm weiter. Es geht mir um das Element der Selbsttäuschung. Der Tatsache, dass man sich in diesem Sprachspiel als Gegenteil von all dem wahrnehmen kann, was man in Wahrheit ist und macht. Und wenn das, was ich gerade sage, für Sie kritisch klingt, würde ich das schon mitdenken. Es gibt nach fünf Jahren ständiger Kritik an Identitätspolitik in deutschen Medien schlicht

nicht die Ressourcen vermittelt, derer man erklären könnte, wieso man sie in diesem Fall eben doch betreibt. Also muss der Widerspruch in diesem Fall schlicht geleugnet werden. Ich glaube, ich überspringe das jetzt ein bisschen. Eine dritte Ebene, auf der Universalismus und Partikularismus gegeneinander gestellt werden, aber eigentlich füreinander vertauscht werden, ist die Flucht auf die und dann wieder die Flucht von der Meta-Ebene.

Auf gewisse Weise entdecken jene, die jetzt Zensur fordern, die sie vor einem Jahr noch verteufelt haben, gerade, dass es einigermaßen schwierig ist, inhaltsunabhängige Maximen aufzustellen.

Gerne wird, meines Erachtens, absolut zu Recht auf die besondere Aufmerksamkeit, die gerade in Anbetracht der deutschen Geschichte der Antisemitismus verdient, verwiesen. Dies aber eben von Menschen, die sich in den letzten fünf Jahren über die Wokeness in Amerika den Mund fusselig geredet haben und die eben nicht das Argument gelten ließen, dass sich eine ähnliche Logik, ausgedrückt unter anderem,

auch in der in Deutschland gerne scharf kritisierten Critical Race Theory, eben auch in den USA auf das Nachleben der Sklaverei anwenden ließe. Soweit meine drei Aspekte. Es ist aber in jedem Fall in Wahrheit die Bewegung zwischen diesen beiden Polen, Praxis und Identität, Partikularismus und Universalismus, Konkretheit und Metaebene, die dem Diskurs seine Stärke gibt. Die Inkonsequenz ist im Grunde genommen sein heimliches Prinzip.

Und das, weil es eben gute Gründe für jeweils beide Pole gibt und weil das Zugeben eben einer multipolaren, multikulturellen Welt das Wort reden würde, vor dem die Benutzer dieses Diskurses eigentlich Angst zu haben scheinen. Es ist, so würde ich behaupten, erstens das Schwingen zwischen den Polen, ohne es zu merken.

dass Cancel Culture Diskurse ihre erste Wirkmächtigkeit verlieh und zweitens eben die Tatsache, dass sie dieses Schwingen ästhetisch als Konsequenz oder Stringenz verkaufen können, gerade für die Menschen, die sich an diesen Begriffen festmachen. Das bringt mich zu einer abschließenden Diagnose, zu dem Aspekt der Cancel Culture Panik, der im Übergang zu einer neuen Diskurspyruette besonders klar zum Ausdruck kommt. Und dabei handelt es sich um

um eben dieses strategische Flackern zwischen den Polen, zwischen Inhalt und Metaebene, zwischen Identität und Universalismus, zwischen Beschreibung bestimmter Gruppen und der Beschreibung unserer Gegenwart als solcher. Die Angst vor Cancel Culture mag für jene Menschen, für die sie funktioniert, bestimmte demokratische Antinomien

zeitweise und wahrscheinlich nur auf rein ästhetische Weise aufzulösen. Sie tut das, indem sie mal ums Mal zwischen zwei eigentlich unvereinbaren Polen schwebt, aber aufgrund der Konstruktion ihres Gegners, der so diffus ist, dass sich keiner wirklich mit ihm identifizieren kann, beide Pole auf einmal für sich in Anspruch nehmen kann. Denn es handelt sich ja um ein Konstrukt und die Warner lassen sich eigentlich recht gerne bei der Arbeit am Konstrukt auf die Finger schauen.

Die Kultur, zu der alles und nichts gehören kann, das Canceln, von dem keiner so genau weiß, was es bedeutet und das dann keinem Definitionsversuch so wirklich standhält. Dieses Problem, das sich in der Empirie nie nachweisen lässt, aber aus dem Gefühlsleben nicht bannen lässt. Es scheint eine bestimmte Art der Realität wiederzuspiegeln und für seine Benutzer auch dort einiges zu leisten. Abschließend also ein Vorschlag, wie

diese Form der Selbsttäuschung und wieso sie gerade bei Konservativen und Liberalen so gut funktioniert. Denn Linke sind ja von Selbsttäuschung alles andere als ausgenommen, nur sie scheinen sich eben anders zu belügen. Und hier dürfte der Status quo das Verhältnis zu diesem das eigentlich Ausschlaggebende sein. Denn so viel lässt sich in der Diskurspirouette der Umdrehung

zwischen Cancel Culture Panik und linker Antisemitismus-Debatte zeigen. Eine Sache bleibt konstant, nämlich Cancel Culture Panik war immer auch eine verzweifelte Verteidigung etablierter Hierarchien. Und das ist die neue Wendung des Diskurses unter fast umgekehrten Vorzeichen auch.

Denn im Endeffekt wurde im ersten Fall immer nach der Politik, nach BildungsministerInnen, nach RedakteurInnen gerufen und genau das passiert heute eben weiterhin. Das Bild einer gesellschaftlichen Hierarchie und gesellschaftlichen Legitimität, das hinter beiden steht, ist im Grunde genommen bei aller Bewegung einigermaßen identisch.

Der Grund, warum das nicht inkonsequent ist, warum weiterhin dieselben Würdenträger, legitime Träger gesellschaftlicher Autorität sind und andere a priori illegitim, und zwar dieselben a priori illegitim sind, lässt sich relativ leicht auch mit dem populistischen Moment verbinden. Die Rede von der Cancel Culture, wie auch die von der politischen Korrektheit, hat immer zweierlei kombiniert.

Sie war Ausdruck einer radikal-liberalen Angst vor Bevormundung und Einklagung von Mündigkeit. Das ist vor allem im englischen Libertarianism sehr schön zu beobachten. Aber andererseits war sie eben auch getragen von einem Respekt von Obrigkeit, einer Art institutionellem Konservatismus. Eben diese Mischung scheint mir bezeichnend für die Stimmung, die den alten Diskurs der Cancel Culture und diese neue Version beide trägt. Und eben diese Mischung...

scheint mir bezeichnend für die Stimmung einer Rechten in den USA und anderswo, deren Konservatismus noch eine weitere Beimischung enthält. Nennen wir es Rechtspopulismus, nennen wir es Autoritarismus. Ob es sich um republikanische Politiker handelt, die Respekt für Donald Trump als Präsidenten fordern, während sie darüber schweigen, was Trump dem Amt des Präsidenten angetan hat. Ob es John Roberts ist, der Chef des Obersten Gerichtshofs in den USA, darauf besteht, dass Menschen

der Institution weiterhin vertrauen, die er gerade kaputt macht. Diese Figuren scheinen gleichzeitig in zwei sich widersprechenden Welten zu leben und ein Stück weit tun wir das wahrscheinlich alle. Sie bewahren einerseits einen gewissen konservativen Institutionalismus bei, beteiligen sich aber andererseits eben an einer populistischen und auch autoritären Degradierung von Institutionen. Sie höhlen genau diese Institutionen aus, deren Aura sie dann gereizt beschwören. Ist es ein Zufall?

dass die Klage über Cancel Culture der zentrale Begriff dieser Formation wurde. Wie alle moralischen Paniken artikuliert die Angst vor Cancel Culture ein affirmatives Verhältnis zu existierenden Macht- und Privilegienstrukturen. Die Cancel Culture Panik lebt von der Vorannahme, oder lebte von der Vorannahme, dass diejenigen, die Macht hatten, PolitikerInnen, RedakteurInnen, Etablierte, AutorInnen und so weiter, diese Macht auch verdienen. Und sie lieferte

eine einigermaßen erschöpfende Erklärung, warum die, die diese Privilegien infrage stellten, eigentlich keine legitimen Diskursteilnehmer waren. Die Angst vor Cancel Culture drückte ein tiefes Vertrauen in etablierte Institutionen und Eliten aus. Aber dann auch wieder nicht. Die Universität der Cancel Culture Anekdote oder des heutigen Antisemitismus Textes unterrichtet ja nur noch Unsinn.

Und er richtet nur noch postkoloniale, postfeministische und so weiter. Also alle haben blaue Haare und so weiter. Die Unternehmen driften wegen Vogue-Capture langsam in die Bedeutungslosigkeit. Man kann sich auf die Schreitkräfte nicht mehr verlassen, weil die zu Vogue geworden sind und so weiter und so weiter. Das heißt, das zentrale Gefühl des Cancel-Culture-Diskurses ist nicht nur ein Vertrauen auf die Institutionen, er zelebriert eben höhnisch die Aushöhlung eben jener Institutionen, deren Aura und etablierte Hierarchie er eigentlich schützen will.

Er ist ein verwirrender, aber eben auch ein verwirrter Diskurs. Zerstörungslust fällt in ihm zusammen mit einem geradezu obsessiven Bewahrungsfimmel. Gender Studies würde man am liebsten ausradieren, aber wehe, es kritisiert jemand ein Jugendbuch, das man 1967 noch ganz okay fand. Aus dieser Art Widersprüche bezieht dieser Diskurs seine Reichweite.

Denn er drückt, das ist meine Befürchtung, mittlerweile eine Lebensrealität aus, eine weit geteilte. Ein Geist, der sich selber noch als liberal begreift, aber doch längst etwas ganz anderes ist. Vielen Dank.

Das war der Literaturwissenschaftler Adrian Daub mit seinem Vortrag Was war Cancel Culture? Er hat ihn am 12. Juni 2024 gehalten und zwar im Rahmen der Mittwochskonferenz des Forschungszentrums Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ich bin Nina Busbartels und sage Tschüss. Und überall da, wo es Podcasts gibt.

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