Herzlich willkommen zur Lage der Nation Ausgabe Nummer 369, eine Sonderfolge vom 18. Februar 2024. Wir haben uns nämlich heute zu einem Interview verabredet. Mein Name ist Philip Banse. Du bist Ulf Buermeyer. So sieht es aus, heute mit einer Interviewfolge. Einfach, weil es sich so ergeben hat. Weil es einfach schlicht total interessant ist. Und weil wir uns dachten, da brauchen wir ein bisschen mehr als die 20 Minuten, die wir in einer regulären Lage vergeben.
Richtig, genau. Wir machen ja manchmal hier Interviewfolgen. Jetzt ist es eine einfach, die sich so ergeben hat, weil wir dachten: Ach, kommt, das wäre doch jetzt mal interessant. Das ist einfach die Zeit, jetzt mal mit diesem Menschen über diese Fragen zu reden. Also worum geht es so? Bigger Picture, hattet ihr ja auch in den letzten Tagen nicht zuletzt
mitbekommen. Unsere Gesellschaft ist einfach einem fundamentalen Wandlungsprozess unterworfen, unter anderem befeuert durch weg von den fossilen hin zu erneuerbaren Energiequellen. Und das zieht eben ein riesen Rattenschwanz an Veränderungen nach sich. Von der Art, wie Bauern wirtschaften bis zu den Leuten in den Keller.
Und diese Veränderungen gewinnen auch unter anderem an Brisanz, weil eben zum Beispiel Einkommen und vor allen Dingen Vermögen immer ungleicher verteilt sind und das begünstigt, ich will nicht sagen, ist die alleinige Ursache, aber begünstigt doch Ängste und auch den Aufstieg rechtsradikaler Parteien. Wir sehen Bauernproteste, wir sehen Demokratiedemos, hohe Umfragewerte für die AfD und viele haben einfach jetzt das Gefühl, unsere Gesellschaft fällt auseinander.
Ja genau unsere Gesellschaft, die, die verliert einfach so an Bindungskraft. Das ist eine häufige Analyse. Unsere Demokratie ist in Gefahr. Wir haben Millionen von Menschen, die auf die Straße gehen, um auch diese Sorge auszudrücken, um für die Demokratie zu protestieren. Und viele Menschen sorgen sich, dass der Grundkonsens darüber verloren gehen könnte, dass wir überhaupt in einer liberalen Demokratie leben
wollen. Es gibt wieder Rufe nach dem Führer oder jedenfalls de facto nach Figuren, die ein solches empfundenes Vakuum ausfüllen könnten. Und die Frage ist aber natürlich: Lässt sich dieses Gefühl überhaupt belegen? Ist es wirklich mehr als ein Gefühl, als eine subjektive Wahrnehmung? Und auf der Suche nach ein paar Antworten, da landet man doch relativ schnell bei unserem heutigen Gast, mit dem wir diese Fragen beantworten oder zumindest mal erörtern wollen.
Denn er hat sich diesen Fragen forschend gewidmet und eben genau in unsere Gesellschaft reingeschaut und sie zum Teil auch vermessen. Fällt sie nun auseinander, ist sie gespalten oder eher doch nicht? Herzlich willkommen in der Lage der Nation, Professor Steffen Mau. Hallo! Schön, dass ich da sein kann.
Professor Mau, Sie sind geboren in der DDR 1968 in Rostock, sind heute Professor für Soziologie an der Humboldt Universität in Berlin und beschäftigen sich mit Makrosoziologie, also mit der Analyse großer Gesellschaftsstrukturen. Und in der letzten Zeit sind sie vor allem in Erscheinung getreten mit Ungleichheitsforschung, haben verschiedene Bücher geschrieben und das jüngste Buch aus dem vergangenen Jahr, also aus von 2023, hat für großes Aufsehen gesorgt.
Dafür, dass es eine solche Schwarte ist, finde ich das ehrlich gesagt schon alleine der Erwähnung wert, dass einfach viele Menschen sich, wie viel Seiten sind es eigentlich? 540 nur, aber... Aber 140 Anhang. Aber es war doch länger. Wir mussten kürzen, das war natürlich auch... Ullstein hat auch gesagt, ne Kinder... Das war wie eine Amputation. Ich habe immer noch einen Phantomschmerz. Sehr schön, dieses Buch heißt "Triggerpunkte, Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft".
Unterzeile, finde ich, eröffnet schon so einen ganzen Assoziationsraum. Ja, warum Gendersternchen und Lastenfahrräder so viele Menschen triggern. Sie haben es nicht allein geschrieben. Das ist zusammen geschrieben mit Thomas Lux und Linus Westhäuser. Und es ist eben, das macht es halt auch so interessant, vor allen Dingen eine empirische Studie. Fußt also auf der Vermessung, auf echten Daten, die aus unserer Gesellschaft herausgefallen sind.
Und wir fangen an mit unserer ersten Frage, die sich so ein bisschen natürlich auch an die Anmoderation anschließt: Die aktuelle Lage in unserer Gesellschaft von vielen ja als Kulturkampf beschrieben oder zumindest empfunden wird, als eine gespaltene Gesellschaft. Und Sie sagen jetzt also zumindest lässt sich das nicht messen. Ist denn unsere Alltagserfahrung einer gespaltenen Gesellschaft wirklich so falsch?
Ja, es gibt so was wie eine gefühlte Polarisierung, und das kann ja jeder beobachten, wenn er die Medien konsumiert oder bei X unterwegs ist. Das ist doch eine bestimmte Grundspannung gibt und häufig auch so polarisierte Gegenwelten sich irgendwie begegnen und häufig auch das Gefühl da ist, es gibt eine bestimmte Unvereinbarkeit bestimmter Positionen. Das ist im Prinzip die diskursive Ebene der Gesellschaft, man könnte auch sagen die Benutzeroberfläche
der Gesellschaft. Und wir gucken ein bisschen besser oder stärker auf die Strukturen, nämlich auf Fragen der Einstellung. Wie positionieren sich unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen? Welche sozialen Orientierung haben sie? Wie entscheiden sich in gesellschaftspolitischen Kernfragen Ungleichheit, Diversität, Migration, Klima. Das sind zu große Debatten oder Diskursarenen.
Und da kann man sehen, dass das ein Stück weit anders aussieht als die öffentliche Kommunikation oder die veröffentlichte Kommunikation.
Nämlich nicht so stark polarisiert und nicht so in dem Sinne, dass wir ja so gesellschaftliche Großgruppen hätten, die sich möglicherweise ja unerbittlich so gegenüberstehen, sondern da sehen wir eher so etwas, was ich manchmal so als Dromedar beschreibe, hab so dieses Bild vom Dromedar und Kamel und Dromedarrücken ist sozusagen ein so ein Hügel, sieht aus wie die Normalverteilung und an den Rändern flacht das ab. Oder es gibt so ein Kamel. Das ist im Prinzip die gespaltene
Gesellschaft. Hat man zwei Hügel und dazwischen ein unüberbrückbares Tal. Und da würde ich sagen, wir sind eher Dromedare als Kamele. Aber das ist eben keine Erwarnungsbilder, sondern wir sagen gleichzeitig in dem Buch: Es gibt eine zerklüftete Konfliktlandschaft, es gibt auch eine Intensivierung von Konflikten. Vor allen Dingen gibt es ganz viele Konfliktfelder, wo wir keine wirklichen politischen Lösungsmöglichkeiten, auch keine Form der Institutionalisierung dieses Konfliktes haben.
Und da liegt es eher im Argen. Aber es ist nicht so, dass wir uns vollständig zerlegen. Also das, was wir häufig in den Medien wahrnehmen, das spiegelt nicht unbedingt das, was auf der gesellschaftlichen Ebene vorhanden ist, wieder.
Dann fangen wir doch vielleicht mal damit an, wo Sie auf den ersten Blick vielleicht kontraintuitiv die These vertreten, dass es doch relativ breite Felder gibt in unserer Gesellschaft, wo die Menschen in Deutschland sich relativ einig sind, wo sie einfach relativ breiten Konsens sehen. Was wären denn das für Felder? Sie nennen ja eine ganze Reihe von Beispielen, auch in Ihrem Buch.
Ja, wenn man jetzt sagt, der klassische Kernkonflikt ist der zwischen Arbeit und Kapital oder um die Frage, wie viel Markt und wie viel Staat, dann könnte man
Ja, da gibt es jetzt so Marktradikale, die wollen irgendwie den Sozialstaat völlig zusammenkürzen, möglicherweise sogar abschaffen. Und die sagen, staatliche Rentenversicherung brauchen wir nicht, wir brauchen auch keine Sozialhilfe oder kein Bürgergeld. Und dann gibt es die anderen, die sagen, man muss umverteilen, und diejenigen, die was haben, denen wird alles abgenommen. Und wenn man das genauer anguckt,
Die allermeisten Leute stehen irgendwie in der Mitte. Die sagen ja, ein Sozialstaat, der für Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit vorsorgt, der ist wichtig. Worüber wir uns eigentlich streiten, ist über die Höhe des Bürgergeldes, vielleicht auch über die Bezeichnung des Bürgergeldes. Aber es ist ein ganz anderer Typ von Konflikt, der sehr viel spezifischer ist. Und so kann man das auch sehen im Bereich der Migration.
Da wird immer gesagt Ja, die einen wollen open borders, aber die Leute, die wirklich sagen, Abschaffung und vollständige Öffnung der Grenze, das sind wahrscheinlich zwei oder 3 % der Bevölkerung. Die allermeisten Leute sagen ja, wir brauchen Arbeitsmigration. Der Fachkräftebedarf ist da. Wir müssen auch Menschen humanitären Schutz geben, die aus Gründen von Krieg oder politischer Verfolgung nach Deutschland kommen. Aber wir wollen trotzdem eine Art von regulierter Migration.
Es dürfen nicht zu viele werden. Das ist eigentlich der gesellschaftliche Grundkonsens. Und so sieht man das eigentlich in fast allen Feldern, auch bei Klima. Vielleicht kann man das für die USA sagen. Da sehen wir eben, dass fast 30 % der Leute sagen, es gibt gar keinen menschengemachten Klimawandel. In Deutschland ist das kein Konfliktfeld, weil wir haben hier sieben, 8 % je nach Studie, die sagen, es gibt keinen menschengemachten Klimawandel.
Die allermeisten Leute sagen, das gibt es, die Politik muss sich darum kümmern. Und ich habe Sorgen deswegen. Das sagen über 80 % der Bevölkerung. Diskutiert wird darüber, wie man damit umgehen soll. Einigen geht der Wandel viel zu schnell, die anderen sagen es nicht schnell genug, weil der Klimawandel eben nicht wartet. Und das ist ein anderer Typus von
Konflikt. Und da kann man eben sehen, dass das jeweils doch durchaus auch eine gemeinsame Basis der Kommunikation gibt, die in der Öffentlichkeit aber häufig nicht so wahrgenommen und diskutiert wird. Wenn Sie Leute fragen auf der Straße: Gibt es einen Konflikt zwischen Klimaleugnern und denjenigen, die sagen, es gibt Klimawandel. Dann würden die allermeisten Leute
Ja, den gibt es. Aber de facto gibt es den gar nicht, weil die Meinungslagerung eigentlich eine andere ist. Vielleicht nur ganz kurz Stichwort Empirie. Das sagt ja vielleicht auch nicht allen Menschen was, die uns zuhören. Was heißt denn das eigentlich, wenn Sie das, wenn Sie das empirisch untersuchen, was sind denn so die konkreten Grundlagen solcher Aussagen?
Ja, in der Regel sind das Befragungsdaten, also von sogenannten Surveys, also bevölkerungsrepräsentative Befragungsdaten, die wir dann in Zusammenarbeit mit auch kommerziellen Unternehmen dann erheben. Wir nutzen aber auch viele Daten, die schon da sind, die wir gar nicht selber erhoben haben. Gerade wenn man jetzt über einen längeren Zeitraum die Veränderungen angucken will, vielleicht über die letzten 30 Jahre, sind da die Meinungen auseinander gegangen? Gibt es eine stärkere Polarisierung?
Dann braucht man eben auch historische Daten und die nutzen wir auch. Aber wir nutzen auch sogenannte qualitative Daten, also sogenannte Fokusgruppen, dass wir Leute aus einem Pool zusammensetzen, die kommen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten Stadt, Land, Ost, West, Mann, Frau, Migrationshintergrund, ohne Migrationshintergrund. Und die setzen wir dann in einen Raum mit einem Moderator oder eine
Moderatorin. Und die diskutieren dann zwei, drei Stunden lang über gesellschaftlich kontroverse Themen und wir sitzen dann hinter einem Einwegspiegel und beobachten das und nehmen das natürlich alles auf und transkribieren das und analysieren das dann. Welche Arten von argumentativen Repertoires werden da eigentlich genutzt? Wer positioniert sich wie? An welchen Themen entzünden sich überhaupt dann bestimmte Konflikte?
Stichwort Konflikt. Wir haben eben so ein bisschen versucht, diesen Konsens oder die Konsense, wie immer man das auch formulieren mag, herauszuarbeiten. Also dieses Bild, was dann eher so das Dromedar ergibt, also das Bild
Es gibt eine große gesellschaftliche Mitte, die sich auf wesentliche Sachen doch im Kern einigen kann. Und dann gibt es so ein paar Ränder, die auslaufen. Trotzdem gibt es ja Konflikte. Trotzdem gibt es ja große Konfliktlinien. Wo laufen die lang? Was sind die großen Konflikte? Ja, es gibt so etwas, was man vielleicht so, "Ja, aberismus" nennen könnte. Also die Leute sagen Ja und dann schränken sie das sofort ein. Also sie formulieren bestimmte Bedingungen, warum sie nicht weiter gehen.
Das ist so und so ein typisches Konfliktfeld. Wir sprechen aber noch von, das ist auch die Überschrift des Buches, so von Triggerpunkten oder Triggerthemen, wo wir beobachten können, dass eine bestimmte sachliche Diskussion, wo man auch Vereinbarung erzielen kann, wo man die Dinge so ein bisschen klein kocht, wo die plötzlich umkippen. Also Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte, wo es dann plötzlich richtig heiß wird. Wir merken das auch in diesen
Diskussionen. Die Raumtemperatur steigt an, die Körperhaltung der Leute verändert sich, verschränkte Arme. Man wird ein bisschen resoluter im Ganzen. Und dann formulieren Leute ja rote Linien bis dahin und nicht weiter. Es gibt Vorwürfe, es gibt auch so persönliche Anwürfe und Formen, auch das Lächerlichmachens. Und uns hat im Prinzip interessiert, wo findet das eigentlich statt? Und das ist nach Feld sehr
unterschiedlich. Ein so ein typischer Triggerpunkt ist zum Beispiel, wenn Leute das Gefühl haben, jetzt wird eine bestimmte Gleichheits oder Gerechtigkeitsnorm verletzt. Ein Beispiel, was wir auch in der Studie genutzt haben, ist, alle
Ich bin wahnsinnig tolerant. Ich habe so viele queere Freunde in meinem Freundeskreis, homosexuelle Personen. Die Welt hat sich verändert. Wir leben im Jahr 2024, da muss man wirklich irgendwie die Dinge ein bisschen lockerer nehmen. Und dann kommen wir mit so einem
Ja, was halten Sie denn von dem Vorschlag, dass Transpersonen am Freitag Nachmittag in öffentlichen Schwimmbädern eigene Schwimmzeiten haben? Und dann sind im Prinzip 8/10 Personen, die vorher ganz tolerant waren, denen geht dann irgendwie die Hutschnur hoch. Die können sich da wahnsinnig ereifern und sagen, das sei doch wahnsinnig ungerecht, das ginge doch gar nicht. Jetzt kommt diese Kleinstgruppe und versucht noch irgendwie Sonderrechte zu reklamieren.
Und da muss man sich schon fragen, was wird da eigentlich irritiert und was wird da verletzt? Das ist so ein typischer Triggerpunkt. Ein anderer ist sicherlich, wenn es zu Irritationen von bestimmten so Normalitätserwartungen kommt. Also das sollte doch so laufen, so haben wir es doch schon immer gemacht, oder auch Verhaltenszumutungen sind so ein typischer Triggerpunkt, zum Beispiel durch gendergerechte Sprache, dass Leute dann irgendwie sagen, das ist habitualisiert, das habe ich nicht anders
kennengelernt. Und jetzt soll ich mich plötzlich umstellen, weil die da oben oder bestimmte Gruppen, auf die man das dann attribuiert, weil die das ein Stück weit einfordern. Also ich frage mich so ein bisschen, das klingt für mich so, als hätten die Leute relativ solide und und tolerante und liberale Grundhaltungen. Wenn die dann aber den Praxistest erfahren, haben die oft das Gefühl, dass Grenzen
überschritten werden. Gerechtigkeit oder meine Gewohnheit, mein eingeübter Alltag oder so eine Norm wird verletzt. Und ich frage mich, warum das ausgerechnet jetzt passiert. Ist es, weil diese Norm einfach eingeübt sind? Die sind da und die Werte sind da und da drunter verändert sich die Welt so schnell, dass die Reibungshitze von dem, was
die Leute. An sich für richtig halten und dem, was diese Werte im Alltag tatsächlich dann bedeuten, dass die Reibungshitze so groß wird und größer wird, als sie das vielleicht vor 30 Jahren war? Ja, das ist sicher, hat sicher was mit der Veränderungsgeschwindigkeit, auch mit der Tiefe der Veränderung zu tun. Dass doch viele auch Umwertungsprozesse stattfinden und manche sich auch permanent neu, normativ sozusagen eingewöhnen muss. Denn die Gesellschaft fordert jetzt was anderes.
Die kulturellen Standards verändern sich. Bestimmte Diskurse werden anders geführt. Ein Vokabular, das noch vor fünf Jahren üblich war, ist jetzt vielleicht nicht mehr opportun in der Öffentlichkeit. Und das führt natürlich darauf, dass man immer wieder auf sich zurückgeworfen wird. Das ist ja auch eine kognitive Anforderung. Und das kann man zum Beispiel sehen im Feld Einstellung zur Homosexualität.
In fast keinem anderen Bereich der Gesellschaft haben wir uns so stark liberalisiert in den letzten 30 Jahren. Noch Anfang der 90er Jahre, wenn man sich dann die Umfragen, die wir dann auch brauchen, um den Zeitvergleich überhaupt zu machen, wenn man sich da das anguckt. Da gab es über die Hälfte der Bevölkerung, die haben gesagt, ja, Homosexualität ist irgendwie eine Krankheit. Es ist unglaublich, in welchem kurzen Zeitraum sich das verändert
hat. Heute sagen über 80 % der Leute: Homosexuelle Paare, natürlich sollen die heiraten können, die sollen auch Kinder adoptieren können. Vor sieben, acht Jahren war das noch ein großes, sozusagen Diskursfeld, wo sich die Geister auch dran geschieden haben, wo viele Leute da nicht mitgehen wollten. Und das ist jetzt umgewertet worden.
Und was wir zum Beispiel finden, das ist sehr interessant, dass die Vorstellung, welche Art von Toleranz man gegenüber heteronormativen Lebensweisen an den Tag legen soll, dass das sich in der Gesellschaft sehr stark unterscheidet, je nach sozialer Schicht. Also in den 70er Jahren, das ist ja auch das, was Eribon und soweiter beschreibt, da gab es ja auch eine sehr stark noch homophobe Arbeiterklasse. Das gibt es heute nicht mehr. Die Toleranz ist ähnlich ausgeprägt wie in der Akademikerklasse.
Was aber ein Unterschied ist, ist zum Beispiel, dass es in der Arbeiterklasse so etwas gibt, was wir Erlaubnistoleranz nennen mit dem Philosophen Rainer Forst, dass man sagt, jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden. Sobald es aber zu einer Politisierung zum Beispiel in der geschlechtlichen Orientierung oder Identität kommt in dem Sinne ja, Regenbogenfahnen werden rausgehängt, es gibt einen CSD, es gibt öffentliche Bekenntnisse zu einer queeren Kultur.
Dann gehen viele Leute auf die Bremse, und dann sagen sie: Diese Art von Politisierung mache ich nicht mehr weg. Also das soll im Privaten verbleiben. Aber sobald das sozusagen zu einer Umwertung von gesellschaftlichen Normen oder auch Wandel führt, möglicherweise auch zu juristischen Folgen, dann gibt es viel mehr Bremsverhalten. Das wird sich über die Zeit vermutlich auch verändern.
Aber das ist der Moment, wo dieser Konflikt aufbricht, wo Leute wirklich das Gefühl haben, jetzt geht es um die Umwertung aller Verhältnisse. Es geht nicht mehr nur darum, dass die jetzt leben können, wie sie wollen. Und da, wie gesagt, es gibt diese Liberalisierung. Aber an der Spitze dieser Liberalisierung gibt es genau die Konflikte, die Sie auch beschreiben, wo es diese, diese starke Reibung und auch diese Hitzeentwicklung gibt. Da habe ich noch eine Nachfrage zu dieser Homosexualität.
Würden Sie sagen, es gibt heute in diesem Bereich keine Triggerpunkte mehr? Doch, es gibt noch Triggerpunkte, aber die sind anderer Art, die sind nicht mehr derart, dass jemand überhaupt homosexuell ist. Es gibt natürlich immer noch Kontexte im ländlichen Raum und so, wo das ein Problem darstellt, wo Menschen auch bedroht werden. Aber in der Breite der Gesellschaft gibt es eine Toleranz und auch eine Akzeptanz. Leute fallen heute nicht mehr so hinten über, wenn ein Kollege homosexuell
ist. Das ist eigentlich gesellschaftlich im Prinzip diffundiert und mehr oder weniger durch. Der Konflikt ist eben anderer Art, also wenn man jetzt zum Beispiel sagen könnte, ja, homosexuelle Personen sollen bei Einstellungen bei gleicher Qualifikation bevorzugt werden, weil es eben doch eine marginalisierte Minderheit ist, da würden unglaublich viele Leute auf die Barrikaden gehen, weil das sozusagen eine bestimmte Umwertung einer von ihnen verinnerlichten Gleichheitsnorm ist.
Und das ist aber ein anderer Typus von Konflikt. Da geht es nicht mehr um die Lebensweise... An sich. ... ganz allgemein, sondern um eine Form der rechtlichen Anerkennung oder von affirmative action, also sozusagen von bestimmten Gleichstellungsmaßnahmen, die man noch zusätzlich trifft. Ja, Sie haben ja jetzt das Stichwort Triggerpunkte jetzt schon mehrfach
angesprochen. Wenn man Ihr Buch liest, gibt es da eine ganze Reihe, die Sie quasi so exemplarisch anführen als Beispiele für Themenfelder, wo die Menschen eben doch dann sehr schnell emotional reagieren, auch wenn die Gesellschaft eben eigentlich nicht so in so klare Lager aufgespalten hat. Ich nenne nur mal so ein paar Stichworte. Das Gendersternchen ist ja schon quasi gefallen, aber arabische Clans sind auch so ein Stichwort, wo die Menschen Puls kriegen, Tempolimit, das Lastenfahrrad und so.
Diese Trigger, die lösen bei manchen extreme Gefühle aus. Aber Sie gehen ja in ihrem Buch noch ein wenig weiter. Sie sagen ja nicht und das passiert hier irgendwie so im Diskurs. Sondern Sie kritisieren, dass solche Reizthemen, solche Trigger immer stärker von so genannten Polarisierungsunternehmen quasi bewusst eingesetzt werden, um aus dem entstehenden Streit, aus dem Dissens, auch aus der Emotion politisches Kapital zu schlagen. Wer sind denn diese Polarisierungsunternehmen?
Und warum tun die das? Ja, das können unterschiedliche politische Akteure sein. Wir haben ja im Prinzip das, was wir jetzt entideologisierte Mitte nennen. Also die Leute haben nicht mehr so eine starke Parteibindung, sind auch keine Stammkunden der Parteien mehr, sondern wechseln auch hin und her. Und das hat über die Zeit zugenommen, dass manche gesagt haben ja, okay, das alte Parteiensystem mit so großen Loyalitäten ist eigentlich nicht mehr vorhanden. Das heißt, wie bindet man eigentlich
Leute? Ganz häufig über Formen der Emotionalisierung, so dass man irgendwie das Gefühl hat, jetzt werden politische Leidenschaften gepackt, jetzt engagiere ich
mich wirklich. Und wenn man jetzt die Demonstrationen gegen die AfD in den letzten Tagen anschaut, da würde ich auch sagen, da ist letzten Endes ein Triggerpunkt mit den CORRECTIV Enthüllungen berührt worden, wo ziemlich viele Leute, die und das wusste man ja vorher diffus schon immer, dass es rechte Netzwerke gibt, die jetzt auch zu den Identitären übergreifen und andere. Aber wo viele Leute das Gefühl haben: Ja, das geht jetzt wirklich nicht mehr, jetzt muss ich mich engagieren.
Und in vielen anderen Feldern hat man das eben auch, dass es sozusagen Leute gibt, die versuchen, bewusst auf solche Emotionalisierung zu setzen. Das ist zum Teil eine Form der Ersatzpolitik. Aber zum Teil weiß man eben auch, dass es sehr großen politischen Nutzen für einen selber haben kann. Wenn man Wählerschaften binden möchte oder zu sich rüberziehen möchte, dann braucht man solche Formen der Bespielung von Triggerpunkten. Also sind so Gefühle und Emotionen so eine Art Ersatzideologie?
Also wenn der Kitt, der der, der dazu gedient hat, dass Leute sich an die Kirche gebunden haben oder an eine Partei gebunden haben oder an einen bestimmten Inhalt gebunden haben oder an eine Gruppe gebunden haben, der ideologisch und traditionell meinetwegen geprägt war, wenn das jetzt wegfällt, dass dann die Emotion an die Stelle tritt, um Leute an sich an eine Idee, an eine Struktur, an einer Organisation zu binden?
Ja, das ist im Prinzip die Möglichkeit, die politische Landschaft so ein Stück weit umzupflügen. Wenn man jetzt zum Beispiel an die letzte, an den letzten Bundestagswahlkampf denkt und Armin Laschet Lachen am Rande des Ahrtals, hat ihm wahrscheinlich einige Prozentpunkte gekostet, möglicherweise auch die Kanzlerschaft. Vielleicht ganz kurze Fußnote für die Menschen, die diese Szene nicht mehr vor Augen haben. Flut im Ahrtal, Katastrophe. Tausende Menschen waren obdachlos.
Und dann gab es quasi so einen Besuch von verschiedenen Politikerinnen und Politikern im Ahrtal. Eigentlich so eine Art Solidaritätsbesuch. Und dann gab es eine Videosequenz, wo es so aussah, als wenn Armin Laschet nicht etwa Anteilnahme zeigte, sondern sich irgendwie mit seinem Nachbarn da in diesem Pulk von Menschen Witzchen erzählt und lacht. Und das wurde ihm natürlich sehr vorgeworfen. Das ist doch hier nicht lustig.
Im Gegenteil, Du machst dich lustig über das Leid der Menschen, oder du nimmst jedenfalls keinen Anteil. Das ist die Szene, die sie meinten. Ja, genau. Und das führt natürlich zu Emotionalisierung. Und da könnte man sagen, in so einem alten politischen System, wo es wirklich was in der Politik "partisanship" heißt, also eine starke Parteibindung, da hätten die Leute gesagt, das finde ich vielleicht nicht gut, aber sie wären nicht zur anderen Partei sofort gelaufen.
Sie hätten sich benommen wie Stammkunden, die jetzt auch nicht reagieren, wenn der Preis mal ein paar Cent steigt oder die Öffnungszeit sich irgendwie verschiebt, sondern man läuft immer denselben Laden. Aber die Leute haben heute sozusagen eine starke Reaktion auf diese, auf diese Art von politischer Kommunikation. Und das führt eben zu was. Das heißt, die Parteien selber gestalten den Prozess der öffentlichen Willensbildung nicht mehr so stark.
Sie sind auch nicht mehr so stark in der Lage, überhaupt die Öffentlichkeit irgendwie zu gestalten, die Themen zu setzen, sondern sie werden häufig von denen überrollt. Da muss man ein bisschen Schadensbegrenzung machen, man läuft bestimmten Themen hinterher. Das heißt, es ist viel volatiler, dieses Geschäft und die Parteien müssen so ein bisschen im Flackermodus operieren.
Also die gucken immer, was eigentlich an Themen so aufpoppt, und da muss man sich dann draufsetzen oder versuchen, diese Themen so weit zu vermeiden, dass man keinen Schaden davonträgt. Und das kann man letzten Endes überall beobachten. Natürlich, die AfD macht das sehr bewusst. Gab einem interessanten Spiegelartikel über die Art, wie die AfD ihr politisches Programm entwickelt, da man die Leute, die professionell da angestellt sind, mal gefragt: Ja, wie machen sie das eigentlich?
Und da haben die dann gesagt, wir machen das eigentlich gar nicht. Wir warten, bis das nächste Aufregerthema kommt, und dann gucken wir, wie die Grünen sich positionieren. Und da machen wir genau das Gegenteil. Also Beispiele um Beispiel aus der jüngsten Zeit war ja die Frage: Sollen jetzt Subventionen für die Landwirtschaft gestrichen werden?
Gab es zwei Themenfelder. Laut AfD Parteiprogramm sollen Subventionen radikal abgebaut werden, gerade Subventionen zugunsten von Landwirtinnen und Landwirten. Aber nun, wo die Ampel das beschlossen hat, hat sich die AfD da in die Spitze der Bewegung gesetzt. Und bei manchen Feldern ist man dann so ein bisschen unsicher.
Bei Corona, dem russischen Krieg in der Ukraine, da hat man dann auch ein bisschen gezögert, im Nahostkonflikt, wo nicht ganz klar ist, wie man sich da eigentlich positionieren kann, weil man erst mal beobachten muss, wie die Leute sich da so ein bisschen strukturieren. Und das politische Feld. Aber man kann das überall sehen.
Hubert Aiwanger ist auch letzen Endes ein Polarisierungsunternehmer in dem Sinne, dass er doch versucht, Stimmungen irgendwie zu ergründen und festzustellen, mit welcher Art von politischer Botschaft er die Leute abholen kann. Häufig sind das Gefühle des Ressentiments, die da bespielt werden. Vorurteile, Polarisierungsunternehmer sagen wir deswegen, weil ganz häufig in dieser Art von politischer Kommunikation die Unterscheidung zwischen Wir und die anderen da drin
steckt. Also wir, die normalen Leute mit dem gesunden Menschenverstand, die jetzt noch nicht irgendwie im Prenzlauer Berg nur ihren Latte Macchiato trinken oder irgendwie in der Berliner Blase untergegangen sind, sondern die noch was vom Leben da draußen kennen. Ich finde dieses Bild ganz interessant, dass so Emotionen die ordnende Kraft in so einer Gesellschaft sind oder zumindest in der politischen Arena.
Wie so ein Magnetfeld, hab ich da so und so viele Magneten und da gibt es diese Eisenspäne. Und je nachdem, wer gerade ein bisschen mehr Emotion verspürt, sammelt halt die Eisenspäne um sich. Sie sagen ja, messbar ist diese Polarisierung in der Gesellschaft nicht. Aber durch diese Triggerpunkte und durch diese Emotion kann doch so was wie Polarisierung sich dann einstellen. Wie funktioniert das? Ja, wir drehen im Prinzip das Bild, was so im Diskurs immer so vorherrscht, eigentlich um.
Also üblicherweise sagt man, es gibt eine gesellschaftliche Spaltung und auf der politischen Ebene wird die eigentlich nur widergespiegelt und reflektiert. Also wir sind Repräsentanten dieser schon vorpolitischen gesellschaftlichen Spaltung und wir sagen, das stimmt eigentlich gar nicht. Die Gesellschaft ist nicht so gespalten, aber die Spaltung wird von oben durch politische Akteure
erzeugt. Das kann auch die Politikwissenschaft in vergleichenden Studien sehr gut zeigen, dass überall da Spaltung auftritt, Polarisierungsunternehmer sehr aktiv eine solche Agenda setzen und bespielen können. Beispiel der CDU Vorsitzende aus Hamburg, dem man ja sonst deutschlandweit wahrscheinlich nicht kennen würde. Der bespielt ja 24 Stunden am Tag das Thema der Gendersprache, der gendergerechten Sprache.
Das macht er jetzt natürlich nicht, weil das jetzt Kern seines politischen Profils ist, sondern weil er weiß, dass die Mehrheit der Leute da Vorbehalte hat. 60, 70, 80 % je nach Befragung können damit nichts anfangen oder sind sogar sehr stark dagegen. Und die versucht er natürlich jetzt sozusagen an seinen Magneten wie die Eisenspäne heranzuziehen
Guckt mal, wenn ihr da irgendwie skeptisch seid, dann bin ich eigentlich euer Heimathafen, dann müsst ihr zu mir kommen. Aber wie entsteht da Spaltung? Also definieren Sie einmal die Spaltung und wie entsteht die durch solche Akteure? Durch solche Akteure? Ja, natürlich, weil es sozusagen Teilungsvorgänge sind, weil es Leute gibt, die dafür sind oder sich davon angezogen sind und andere, die da, die dagegen sind. Aber das soll bei jedem inhaltlichen Thema schon immer so gewesen.
Ne, man könnte ja zum Beispiel auch Themen ganz anders diskutieren. Also ich nehme jetzt mal Friedrich Merz und den Zahnersatz für Geflüchtete. Da könnte man jetzt sagen, 28 % aller Ärztinnen und Ärzte in Deutschland haben Migrationshintergrund. Wenn wir keine regulierte Migration und keine Fachkräftesicherung haben, dann werdet ihr nie einen Zahnarzttermin bekommen.
Hier ist sozusagen die Spaltung zwischen denjenigen, die naiv einer Willkommenskultur hinterherlaufen, möglicherweise noch ein neues Fachkräftesicherungsgesetz verabschieden wollen, vielleicht auch noch das Staatsbürgerschaftsrecht reformieren wollen. Und dann kommen noch ganz viele Geflüchtete. Und dann gibt es diejenigen, die irgendwie davor warnen und sagen: Meine Güte, wir können ja noch nicht mal unsere eigenen Leute im Gesundheitssystem richtig bedienen. Und es ist natürlich klar.
Welchen Trigger spricht das an? Ganz viele. Jeder kennt das Bauchgefühl. Man sitzt im Wartesaal, Warteraum eines Arztes und dann kommt eine Person, die kommt später als man selbst und wird früher aufgerufen. Das verursacht bei mir auch ganz negative Gefühle, muss ich sagen, die durch so was natürlich angesprochen werden.
Da wird dann eine Art von Sozialneid oder Konkurrenzverhältnis aufgebaut und da könnte man schon sagen, das setzt eben ganz spezifisch an einem Gefühlshaushalt an, möglicherweise auch an einem Moralhaushalt, weil Leute wirklich sagen, das ist auch ungerecht, dass die kommen, die jetzt erst mal nichts eingezahlt haben und dann eine gesundheitliche Leistung beanspruchen können, wo man selber vielleicht auch noch zuzahlen muss und die dann nicht.
Solche Konflikte werden da eben geschürt und die Idee ist letzten Endes schon Konflikte, die erst mal stillgelegt sind oder gar nicht so virulent sind oder gar nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, die in das Zentrum der gesellschaftlichen Debatte hineinzubringen. Und das führt in der Folge eben dann auch zu bestimmten Arten von Spaltung oder von gesellschaftlichen Polarisierung. Das zeigt im Prinzip die gesamte Forschung, zum Beispiel das Migrationsthema.
Da kann man sagen, das ist ein Thema von vielen, das die Menschen umtreibt. Die Frage des bezahlbaren Wohnens ist auch ein Thema, das sehr, sehr groß gemacht werden könnte. Aber das lässt sich nicht so ohne Weiteres emotionalisieren. Ja, da würde ich nämlich tatsächlich noch mal nachhaken.
Sie haben ja eben, finde ich, dieses schöne Bild verwendet vom Umpflügen der politischen Landschaft, dass man also mit bestimmten emotionalisierenden Themen Leute auf seine Seite ziehen kann, die eigentlich vielleicht ganz woanders ursprünglich mal standen. Ich denke, vielleicht kann man das am Beispiel dieser Migrationsdebatte besonders gut zeigen. Das war auch nach empirischen Daten für viele Menschen bis vor relativ kurzer Zeit gar kein besonders
wichtiges Thema. Und vor allem stand ja eine Mehrheit der Menschen in Deutschland jedenfalls grundsätzlich Migration neutral oder positiv gegenüber. In allerjüngster Zeit, also noch nach Erscheinen Ihres Buchs, jetzt vor kurzem in einem Interview mit Ihnen gehört, kamen Zahlen raus, dass nun also fast plötzlich etwa 60 % der Menschen in Deutschland skeptisch gegenüber Migration sind.
Und das ist ja umso irritierender, als wir, Sie haben es angedeutet, aus einer rationalen Perspektive eher mehr Migration brauchen, weil wir sonst unsere fehlenden Arbeitskräfte überhaupt nicht ersetzen können. Wie konnte denn das geschehen, dass so ein Thema so aufgeladen wird und das dann zugleich so irrational diskutiert wird? Das kann ja nicht alleine an der AfD liegen. Nein, aber natürlich ist das Agenda Setting ist schon ganz entscheidend.
Also welche Themen werden zu welchem Zeitpunkt, in welcher Art und Weise diskutiert? Und wenn man in der Lage ist, die gesellschaftliche Debatte oder die Themensetzung der gesellschaftlichen Debatte ganz entscheidend mitzubestimmen, dann ist man schon mehr oder weniger Gewinner. Ich meine, für die AfD ist das Migrationsthema das zentrale Thema. Hat sich ein bisschen gewandelt.
Gut, es gab auch mal früher andere Themen, aber es ist jetzt letzten Endes neben der Klimafrage ein ganz zentrales politisch programmatisches Thema, weil man eben weiß, dass es in Bezug auf Migration auch so etwas gibt wie Ängste vor Kontrollverlust. Es gibt auch akute Probleme in den Kommunen, der Unterbringung, es gibt auch Integrationsprobleme. Das ist ja alles nicht wegzureden.
Aber die Karriere dieses Themas über die Zeit steht in keinem Verhältnis zu dem wachsenden oder sich verändernden Problemdruck. Das entkoppelt sich relativ stark davon, sodass, wenn das permanent öffentlich verhandelt und immer wieder gewälzt und ventiliert wird, Leute irgendwann sagen: Meine Güte, Deutschland geht ja irgendwie unter, weil wir von Migrantinnen und Migranten überflutet werden.
Wenn man jetzt Experten oder Expertinnen fragt zu diesem Migrationsthema, die sehen das alles viel, viel nüchterner. Ich glaube auch nicht, dass man die Probleme kleinreden muss, sondern das sind Themen, die die Leute auch bewegen.
Aber die Dissalenz dieses Themas, also in sozialwissenschaftlichen Begriffen, also wie wichtig das Thema dann tatsächlich ist, das hat sich über die Zeit verändert und auch die Wichtigkeit dieses Themas, zum Beispiel für die Wahlentscheidung oder für die Präferenz einer Partei. Das könnten ja auch andere Themen sein, um die man sich eigentlich herum gruppiert, die vielleicht auch lebensweltlich eine große Relevanz haben, aber die erst mal nicht so stark im Zentrum stehen.
Ja, und da würde mich eben die Rolle der Parteien interessieren, die nicht AfD heißen. Ist es der AfD quasi alleine gelungen, die Dissalenz, wie Sie sagen soll, in diesen Raum dem Thema Migration zu geben? Oder welche Rolle spielen da die Union oder die SPD zum Beispiel? Ja, das ist natürlich schwierig für die anderen Parteien, dann damit umzugehen, wenn diese Themen erst mal so weit nach oben geklettert sind in der Aufmerksamkeit. Wie kann man das eigentlich
abmoderieren? Wie kann man das in eine sachliche Debatte zu überführen? Und es gibt schon die Sirenengesänge des Kulturkampfes. Das ist auch sehr verführerisch für Parteien, diese Klaviatur zu spielen. Und nicht jeder Politiker, nicht jede Politikerin ist sich sicher, eigentlich mit Blick auf das Maß und und die Mitte, die man da anwenden muss.
Wir sehen das in vielen anderen Ländern, die dann, wo konservative Parteien zu stark sich in diese Kulturkampfrhetorik hineinbegeben haben, dass sie letzten Endes aufgefressen worden sind. Also die sind eigentlich von dem, was sie da angezettelt haben, verschluckt worden, weil das immer extremer, immer schriller wurde, dass man vielleicht auch gar nicht mehr diese emotionalisierten Gewinne, die man sich da erhofft hat, selber einfahren konnte, sondern das hat dann bei anderen eingezahlt.
Und ein Großteil der Forschung sagt letzten Endes, wenn man diese Themen übernimmt und wenn man gar nicht mehr selber seine eigenen programmatischen Themen in der öffentlichen Kommunikation ausflanken kann, dann zahlt das immer bei den anderen ein. Also immer ganz stark bei der AfD. Wenn ich jetzt permanent sage Migration ist die Mutter aller Probleme, wenn wir jetzt die Migration nicht effektiv kontrollieren, dann geht Deutschland unter. Ja gut, wem soll das nützen?
Dann würden ja kaum Leute sagen: Jetzt laufe ich sofort zur CDU, die sich natürlich auch an das Grundgesetz halten muss, die natürlich auch einer europäischen Regulierung sich unterwerfen will. Also da löst man letzten Endes Erwartungen aus, die man auch nicht so ohne Weiteres befriedigen kann. Also was ich mich frage ist, welche Themen und welche Bereiche sich für diese Art der Emotionalisierung eignen und welche nicht und welche Triggerpunkte da zum Einsatz kommen.
Migration haben wir darüber gesprochen. Es gibt offensichtlich Themen, die sind so unsexy und so weit weg von den Leuten, von dem Alltag und dem eigenen Erleben, dass es damit überhaupt keine Identifikation gibt. Aber es gibt gleichzeitig auch Themen, wo man sich sich fragt Warum redet darüber keiner?
Beispiel Vermögen, Erbrecht, solche Sachen, dass in Deutschland Vermögen vererbt werden von mehreren 100 Millionen € und die Leute aufgrund von Ausnahmeregelungen usw gar nichts oder ein oder 2 % an Steuern zahlen. Das interessiert niemanden. Niemand regt sich darüber auf. Das ist kein Thema. Es gibt Leute, die versuchen, das zu emotionalisieren, um damit irgendwie politisch Punkte zu machen. Es gelingt nicht. Was unterscheidet diese Themen? Tja, das ist eine große Frage.
Wir finden ja auch in unserer Studie, dass 80 % der Leute sagen, die Einkommens- und Vermögensungleichheit ist zu groß. Das ist eigentlich gesellschaftlicher Konsens. Und dann würde man jetzt sagen, das sind ja perfekte Bedingungen für eine linke Umverteilungspartei. Also würde man denken, da sage ich jetzt Erhöhung der Erbschafts- und Vermögenssteuer oder überhaupt Einführung der Vermögenssteuer. Und dann habe ich schon 40 % Zustimmung.
Reichensteuer, das ist doch, was man davon auch immer hält. Aber wenn es einen emotionalisierenden Begriff gibt, der irgendwie Gefühle anspricht und Impulse anspricht, aber das zündet überhaupt nicht. Also konkretes Beispiel: Die SPD hat das ja gerade beschlossen, Anfang Dezember auf ihrem Bundesparteitag. Also haben sie beschlossen, mehr Einkommenssteuer für Reiche, Vermögenssteuer wieder einführen, Erbschaftsteuerreform mit dem Ziel mehr Geld in Bildung.
Also 100 Milliarden in die Bildung, genauso wie 100 mehr an die Bundeswehr. Wir hatten Saskia Esken in der Lage im Interview. Es hat keine Sau interessiert. 30 Minuten Interview. Ein total spannendes Thema, würde man denken. Passiert nichts und wird quasi ignoriert. Auch sonst nicht, in sozialen Medien. Warum nicht? Und das, obwohl 80 % der Leute sagen, es ist unfair. Ja, das haben wir uns auch gefragt. Und wir gehen in dem Buch auch ein paar Antworten darauf.
Und eine Antwort ist, dass zum Beispiel das Leistungsprinzip oder die Vorstellung einer leistungsgerechten Gesellschaft, dass das unglaublich stark internalisiert ist. Wenn Sie in den 70er Jahren Studien angucken und Leute werden gefragt Ja, glauben Sie, dass die Statusverteilung so ist, dass jeder nach seinen Anstrengungen und Talenten irgendwie seinen Platz gefunden hat? Dann haben das vor allen Dingen diejenigen gesagt, die in den oberen Etagen der Gesellschaft gesessen haben.
Also, wer reich war, der fand das gerecht. Der hat letzten Endes den eigenen Status auch durch eigene Anstrengung legitimiert. Das nennt man ja meritokratische Norm. Das ist eben ein starker Legitimationspuffer für große Ungleichheiten. Heute ist es letzten Endes gesellschaftsweit von allen Schichten getragen, aber besonders stark von denjenigen, die in der Arbeiterklasse sind, gar nicht mehr die Obersten, sondern diejenigen, die eigentlich da sitzen, wo man Umverteilung fordern müsste.
Die sagen ja, mehr oder weniger ist die Gesellschaft so organisiert, dass diejenigen, die sich anstrengen, viel haben und die, die wenig haben. Warum das jetzt so gekommen ist? Ja, da könnte man jetzt sagen, es gab ein Zeitalter des Neoliberalismus. Es gab auch in gewisser Weise so eine Erschöpfung der gewerkschaftlichen Utopien, dass man irgendwie über gewerkschaftliche Organisation, Mobilisierung, Umverteilung machen kann.
Also wir sind eigentlich weggekommen von einer Klassengesellschaft hin zu einer Gesellschaft des Wettbewerbs, von Individuen. Also wenn man sich verbessern will, dann macht man das vor allen Dingen dadurch, dass man sich selber anstrengt, Investitionen in die eigene Bildung unternimmt und gar nicht mehr, indem man sich zum Beispiel als Klasse gewerkschaftlich organisiert. Wir sprechen von der demobilisierten Klassengesellschaft in dem Buch. Das ist sozusagen ein Faktor.
Interessant ist auch, dass es eine Veränderung im Prinzip der gesellschaftlichen Konkurrenverhältnisse gibt. Es geht nicht mehr so stark unten gegen oben, sondern es geht ganz stark, sozusagen auf einer Ebene. Also ich hatte ja schon angesprochen, die Konkurrenz mit Migrantinnen um Sozialleistungen, Wohnraum ist so ein Thema. Die Leute, die die größten Vorbehalte gegenüber der Erhöhung des Bürgergeldes haben, sind die Leute in unmittelbarer sozialer Nähe dieses Bürgergeldes.
Also Menschen, die quasi am Abgrund zum Bürgergeld stehen. Ja. Die irgendwie ein bisschen mehr verdienen, die im niedrigen Einkommenssektor sind, das sind diejenigen, die haben die größte Skepsis. Weil sie glauben, dass sie dafür was leisten, für was sie tun. Und die anderen...
Ja. Also im Prinzip hat sich das, was man früher Klassenkampf, wo es um die Frage Ja, jetzt geht es um die große Verteilung des Kuchens dass es heute zu einem moralisierten Anspruchskampf geworden, wo es einige Gruppen gibt, die sagen: Ja, ich bin legitimiert, weil ich früh aufstehe, mich um meine Kinder kümmer, irgendwie einen stressigen Job mache. Und dann gibt es die anderen, die liegen in der sozialen Hängematte.
Und im Prinzip ist dieser vertikale Klassenkampf zu einem horizontalen Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Gruppen geworden. Und dadurch bindet das die ganze Aufmerksamkeit. Wenn Sie sich angucken, wie viel und wie intensiv man öffentlich über das Bürgergeld debattiert hat und die eben nicht über die Erbschafts- oder Vermögenssteuer oder den Spitzensteuersatz. Also ich meine, um das vielleicht noch mal so ein bisschen auf den Punkt
Es ist ja völlig irrational, dass relativ arme Menschen sich politisch mobilisieren lassen gegen ganz Arme. Also die Menschen in den unteren Einkommensklassen kämpfen mit Verve, wenn ich Sie richtig verstehe, gegen Menschen, die Bürgergeld empfangen, gegen Migrantinnen und Migranten, anstatt sich gesellschaftlich politisch mit denen anzulegen, die die Milliarden zu verteilen hätten. Ist das Ihr Befund? Ja, im Prinzip sagen wir auch, dass es noch so etwas gibt wie klassenmäßige Soziallagen.
Also natürlich die Lebenschancen hängt sehr stark ab von der Klasse, in die man geboren ist, oder von der Einkommensgruppe, der man sich befindet. Aber es gibt kaum noch Hoffnung darauf, dass sich über kollektive Organisation die Verteilungsverhältnisse verändern lassen. Also klassischerweise haben
Ja, meine Lage ist desolat. Aber ich organisiere mich in einer Gewerkschaft und gewinne dann sozusagen an sozialer Macht und versuche, diese Umverteilungsverhältnisse zu verändern. Hat ja 40 Jahre funktioniert. Heute sind die Leute aber stärker auf sich selbst zurückgeworfen. Ich meine, die Bindungskraft der Gewerkschaften ist abgeschwächt. Die Mobilisierungsfähigkeit, vielleicht verändert sich das jetzt wieder. Aber es ist relativ gering. Es gibt viel, viel weniger Gewerkschaftsmitglieder.
Das heißt, diese Art von Kollektivierung oder von kollektiver Bewusstseinsbildung, die dann hin zu Form von Mobilisierung führt, die ist nicht mehr so vorhanden. Das heißt, jeder Mensch hat ja im Prinzip zwei Wege zu sagen: Wenn ich meine Stellung in der Gesellschaft verbessern will, dann kann ich einerseits so etwas machen wie individuelle Aufstiegsmobilität oder mich kollektiv organisieren und darum kämpfen, dass sich die Verteilungsverhältnisse verändern.
Und heute entscheiden sich die allermeisten Leute für das Erste. Ja, aber dann wird ja so auch ein Schuh draus, dass wenn man mal davon ausgeht, dass der Wunsch, sich zu verändern, heute ähnlich ist wie damals in ähnlichen Lagen. Also dieser Wunsch zum Aufstieg. Ich bin unzufrieden. Ich werde gerne mehr. Wenn das aber nicht mehr funktioniert über Ich bin dann Gewerkschaftsmitglied oder Parteimitglied ist die emotionale Energie trotzdem da.
Und wenn die aber keinen Weg findet - ich gehe in die Gewerkschaft und ich kämpfe und dann steigen wir als Klasse auf - dann wundert es mich auch nicht, wenn diese Energie explosionsartig ausgelöst werden kann durch so was wie Triggerpunkte, dass die Leute einfach dann was hören, was ganz viel von diesen Emotionen, die sie angesammelt haben, die sie orientieren auf bestimmte Gegner, die sie ausgemacht haben, dann emotional explosiv abgerufen werden. Absolut. Und genau darum geht es.
Das ist so ein Gefühl, der der Ungerechtigkeit und des Zu kurz Kommens und nicht mehr mithalten können. Und das findet dann irgendwie ein Ventil. Das ist vielleicht ein bisschen wahllos, auf wen sich das dann richten kann. Aber man attribuiert irgendwie Schuld oder Verursachung. Das sind dann häufig irgendwie auch schwächere Gruppen oder marginalisierte Gruppen oder neu hinzukommende Gruppen.
Das heißt, die sozialen Energien, die sonst in eine andere Art von Klassenauseinandersetzung hinein gegangen sind, die gehen jetzt woanders hin und finden häufig eben auch einen Ausdruck in Form des Ressentiments. Und das wird auch eingesammelt, eben von rechtspopulistischen Parteien,
Ja, okay, wir sind jetzt irgendwie für euch da und hier könnt ihr das alles ablagern und die verstärken das natürlich noch mal so ein Stück weit. Und daraus speist sich ein Teil, nicht alles. Es sind auch andere Faktoren, die da eine Rolle spielen, aber auch ein Teil des Erfolges, weil eben auch so viel Druck auf dem Kessel ist. Denn man darf ja auch nicht vergessen, wenn man die unteren Schichten anguckt. Die Wirksamkeit in die Politik hinein ist extrem gering.
Die Leute haben nicht mehr das Gefühl der politischen Selbstwirksamkeit. Es gibt ganz viel, was man politische Deprivation nennt. Also sie gehen nicht mehr zur Wahl. Entfremdungserfahrung. Sie sind nicht mehr in diesen großen Mitgliedschaftsorganisationen, das heißt die Übertragungskanäle ihrer eigenen Interessen in das politische System hinein sind eigentlich verloren gegangen.
Es gibt eine ganz starke Entkopplung und vor allen Dingen also Leute jetzt, die gute Berufe haben, die vielleicht einen guten Bildungsgrad haben, die hohe, auch berufliche Autonomie haben, die können sich da verwirklichen, die haben auch sozusagen. Ressourcen dafür, was zu tun. Sowohl ökonomische, aber wie auch kognitive Ressourcen, wo sie das Gefühl haben, ja, ich bewältige diese Welt, ich kann meine Umwelt irgendwie mitgestalten.
Wenn man sich in unteren Soziallagen befindet, wenn man am unteren Ende der betrieblichen Hierarchie ist, dann ist man häufig Befehlsempfänger. Man ist auch ausgeschlossen von Mitbestimmungsmöglichkeiten. Und irgendwo muss das ja hingehen. Und das ist so und so ein Druck, der sich da aufbaut, ist eine unglaublich starke Unzufriedenheit.
Wir haben zum Beispiel so eine, so eine Frage auch bei uns in unserer Umfrage gehabt, ob die Leute sich, ob die noch das Gefühl haben, mit dem sozialen Wandel mitzukommen. Und da sieht man, ein großer Teil der Bevölkerung hat das nicht mehr. Fast 40 % von Leuten,
Ich schaff das nicht mehr mitzukommen. Und je geringer das Einkommen, desto größer dieses Gefühl. Aber das ist ja im Kern ein Armutszeugnis für unser politisches System. Wenn Sie sagen, die Bindekräfte von Gewerkschaften, Parteien, allen Institutionen sagen wir mal der klassischen Bundesrepublik, um Emotionen, Interessen, Gefühle in das politische System zu transportieren, haben an Macht, an Wirkung, an Bindungskraft verloren.
Es fehlt der Ersatz, die Gefühle, die Emotion, die Energie ist trotzdem da, die weiß nicht wohin. Dann lässt sie sich explosionsartig auslösen. Durch Triggerpunkte lässt sich ausnutzen durch Parteien, die letztlich keine rationale Lösung haben. Was ist denn Ihre Antwort? Was für Mechanismen gibt es, um diese sozialen Energien zu mehr Gerechtigkeit, Aufstieg etc. in eine konstruktive Bahn zu leiten? Ja, Sie verlangen jetzt viel von mir. Sie sind doch Professor. Ja, ich bin noch aus der DDR.
Außen an der Tür steht Achtung, Bitte nicht stören. Hier ist Prüfung. Aber normalerweise prüfe ich immer und werde nicht geprüft. Aber Sie drehen den Spieß um. Natürlich muss man sich da überlegen, wie man die Möglichkeit der Selbstwirksamkeit auch dieser Transmission von von Interessen, Bedürfnissen, auch sozialen Perspektiven letzten Endes herstellt.
Wir dürfen nicht vergessen In den 80er Jahren waren 4 % der wahlberechtigten Bevölkerung noch Mitglied einer Partei, heute ist es 1,7 %, in Ostdeutschland unter 1 %. Das heißt sehr, sehr wenig Leute haben überhaupt die Möglichkeit, irgendwo hinzugehen und ja, ihre Beschwernisse, auch ihr Leiden an der Gesellschaft irgendwo abzulassen. Und das ist ja häufig auch im Gespräch. Und andersherum hat die Absorptionskraft der Parteien für gesellschaftliche Konfliktlagen so enorm abgenommen.
Also sie spielen eigentlich in vielen lokalen Kontexten gar keine Rolle mehr. Sie sind sehr, sehr kleine, fast bonsaiartige Organisationen geworden. Das heißt, wie drückt sich eigentlich das Politische aus? Man muss eigentlich fragen: Wie kann sich die Demokratie revitalisieren und diesen Interessen irgendwie Geltung verschaffen? Stimme und Gehör. Und da geht es jetzt nicht darum, irgendwie auf den besorgten Bürger auf der Straße zu hören.
Aber wir können natürlich schon beobachten, dass das, was früher über die Parteien absorbiert wurde, in allen Parteien, vielleicht nicht bei den Grünen, aber in allen Parteien saßen auch Leute mit chauvinistischen, rassistischen und sonstigen Ansichten. Bei den Grünen auch. Ja, aber die wurden da irgendwie eingehegt. Also die haben zwar im Ortsverein da noch hin und wieder mal ihre Dinge ablassen können, aber es gab mehrere Zwischenstufen, wo das irgendwie so ein Stück ratifiziert worden ist.
Und heute sind wir eigentlich zu so einer Erregungsdemokratie so ein Stück weit hingewandert, wo die Leute sagen, ich gehe auf die Straße, weil ich da viel, viel mehr wirksam werden kann. Also ich geh auf die Straße, ich hupe dort, ich blockiere Straßen... Oder ich wähle rechtsextrem. Und versuche letzten Endes, den politisch Mächtigen bestimmte Zugeständnisse abzuringen.
Das heißt, man verlässt sich gar nicht mehr auf die traditionellen Kanäle der Interessenrepräsentation, sondern man versucht eigentlich so etwas zu machen wie eine Einforderungsdemokratie, wo es eine unmittelbare Kommunikation zwischen der Straße und den politischen Mandatsträgern gibt. Und das ist eine andere Form von Politik als die, die klassischerweise durch korporative, interessenförmig organisierte Organisationen stattgefunden hat.
Ja, Sie haben ja, Sie haben ja jetzt schon mehrfach quasi zu diesem Frust Ausdruck gegeben, dass Menschen an Selbstwirksamkeit fehlt. Wir haben auch schon herausgearbeitet, dass Ungleichheiten dafür eine ganz wesentliche Rolle spielen. Ich will aber trotzdem noch mal kurz einhaken wollen bei diesem, bei dieser jedenfalls von mir so wahrgenommenen Irrationalität, quasi in der Beschreibung der
Probleme. Also dass man jetzt Migrantinnen und Bürgergeld Empfangende irgendwie als die zentralen Übeltäter identifiziert im politischen Diskurs. Sie haben das so ein bisschen erklärt mit so einer neoliberalen Erfolgsideologie nach dem Motto: Wer reich ist, hat sich das verdient. Aber das ist ja empirisch gerade nicht der Fall. Sondern Reichtum in Deutschland entsteht in aller Regel durch Erbschaft. Das ist also in aller Regel leistungsloser Reichtum. Es gibt natürlich Ausnahmen.
Keine Ahnung. Leute, die irgenwelche Start ups gründen, aber durch jedenfalls einfach nur fleißiges Arbeiten ist es immer schwerer geworden, tatsächlich wohlhabend zu werden. Die allermeisten Menschen, die wirklich reich sind, haben nichts dafür getan, außer in die richtige Familie hineingeboren worden zu sein. Und da muss ich ganz ehrlich sagen, dass da verstehe ich noch nicht ganz, warum da der Erfolgsmythos gleichwohl wirksam ist. Der erklärt ja gerade nicht diese Vermögensunterschiede.
Ja, weil letzten ist auch das Image der Reichen sich verändert hat, also die Reichen, wenn man sich das mal anguckt, gibt auch Studien dazu. Also das Selbstnarrativ der Reichen ist immer, ich musste mich unglaublich anstrengen. Also es gibt nur noch working rich, also Leute, die reich sind und gleichzeitig arbeiten und auch permanent davon reden, dass sie unglaublich viel tun müssen, um diesen Reichtum zu
halten. Reichtum wird ja häufig in der öffentlichen Kommunikation fast wie eine Belastung dargestellt. Selbst Kinder von Superreichen
Ich bin jetzt da hingekommen. Selbst unter dieser nachteiligen Bedingung, dass meine Eltern schon privilegiert waren, musste ich mich durchsetzen, weil dieser reichere Name eines von reichen oder berühmten Eltern ja für mich eigentlich nachteilig gewesen sind. Das heißt, man muss permanent auch so eine Legende schöpfen, dass man diesen Reichtum ja irgendwie erarbeitet und verdient hat.
Wir haben in unserer Studie gefunden, dass Reichtum eigentlich nur dann anstößig ist, wenn sich die Leute sehr pointiert auf eine Art und Weise amoralisch verhalten oder wenn sie sich als in Anführungszeichen "unnütze" Reicher gerieren. Unnütze Reiche heißt dekadenter Lebensstil, rücksichtslos gegenüber allen anderen usw. Und diese Art von Reichtum zum Beispiel haben wir in Deutschland
nicht. Das würde auch nicht so bewundert werden, wie das in den Vereinigten Staaten zum Beispiel der Fall ist, wo man das eben machen kann. So ein Protzreichtum, sondern hier ist der Reichtum häufig versteckt. Es gibt einen sehr bescheidenen oder zumindest äußerlich bescheidenen Lebensstil.
Man gibt sich nicht besonders exaltiert, sondern diese Art von strategischem Verstecken eines sehr, sehr reichen Lebensstils und auch damit verbundener Machtprivilegien, also auch der Zugriff auf politische und ökonomische Macht, ist ja enorm. Wir reden permanent von Kulturkampf, wir reden von den linken, liberalen, Kultureliten oder von den Lifestylelinken, als hätten die so wahnsinnig viel Macht. Die Macht ist immer noch ökonomisch, immer noch ökonomisch definiert.
Und das überträgt sich natürlich auch ins politische System. Das heißt, ein großes Unternehmen oder ein Superreicher, der dann droht abzuwandern, hat natürlich einen ganz anderen Hebel ins politische System als irgendwie ein Lifestyllinker, der in Kreuzberg sitzt und über die Welt schwadroniert.
Also wenn es überhaupt "Lifestylelinke" gibt, jetzt mal Anführungszeichen, aber das wird natürlich in der öffentlichen Diskussion nicht so wahrgenommen, sondern da guckt man eben stark auf diese kulturelle Hegemonie und ganz wenig auf die ökonomischen Machtverhältnisse. Ich würde sagen, wenn der Reichtum sich anders zeigen würde, öffentlicher, dekadenter, ostentativer Reichtum wäre, dann würde er vielleicht auch anders politisierbar sein.
Aber so machen die allermeisten Leute, jedenfalls in unserer Studie das eigentlich nicht. Das führt so ein bisschen zu der Frage, wie progressiv demokratische Parteien sich diese emotionalisierte Politmechanik zunutze machen können.
Also wenn Sie jetzt sagen Triggerpunkte, ein Wort Lastenfahrrad, das lässt sich ja super in einen Tweet abliefern und schon hat man den ganzen emotionalen Kosmos ausgelöst, der in diesem Wort klebt, während man politische, komplexe Konzepte halt in so einem Post nicht erläutern kann. Würden Sie sagen, das ist nun mal so? Das ist der neue Kitt, mit dem sich Allianzen binden und progressiv demokratisch gesinnte Parteien müssen sich dieser Mechanik irgendwie bedienen?
Ja, das gibt ja so eine Diskussion darüber, ob es nicht auch eine Affektpolitik von links geben soll. Linker oder demokratischer Populismus. Ja, linker Populismus. Und die Frage wie kann man eigentlich diese Leidenschaften wieder wecken? Möglicherweise geht das. Ich bin mit meinen zwei Kuratoren Linus Westhäuser und Thomas Lux. Wir sind uns da auch nicht vollständig einig.
Der Linus ist da so ein Stück weit optimistischer und hat die Vorstellung, es könnte auch so etwas geben, indem man eben Gerechtigkeitsthemen noch viel, viel zentraler bespielt. Und ein Beispiel, was er gerne nutzt und was ich auch sehr einleuchtend finde, ist Andi Babler, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, der ganz häufig in öffentlichen Reden ein Triggererthema setzt, und zwar dergestalt, dass er sagt: Es ist doch ungerecht, dass wir in einem reichen Land leben.
Und es gibt Schüler hier in Österreich, die hungrig zur Schule kommen müssen. Das ist ein Triggerpunkt, den kann jeder verstehen. Aber was macht das zu einem Triggerpunkt? Ja, weil man da wirklich das Gefühl hat, das ist ein ganz starkes Ungerechtigkeitsgefühl, das irgendwie politische Leidenschaften hervorruft. Da kann jeder innerlich so ein Kopfnicken nachvollziehen
Ja, stimmt, das ist wirklich ungerecht. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern ist ein unschuldiges Kind. Hunger ist ein physisches Gefühl, wo man irgendwie das Gefühl hat ja, das spricht noch mal was ganz anderes ab, als wenn ich jetzt
Ja, Rentenpunkte müssen jetzt so und so angeglichen werden. Aber funktioniert das, verbreitet sich das? Setzt das Themen? Ist das Agenda Setting? Das ist ja die Frage, ob es da Themen gebe und Emotionalität die man ansprechen kann, Ungerechtigkeitsgefühle finde ich, da muss man nicht lange suchen. Ja, man könnte sagen, es gibt einen strategischen Vorteil auf der rechten Seite. Also es gibt natürlich auch emotionalisierende Politiker.
Bernie Sanders ist so jemand, der auch im Prinzip eine sehr junge Bewegung damit angesprochen hat. Aber wir finden zum Beispiel relativ stark, dass diese Art von Triggerpunkten die gibt es auf beiden Seiten links wie rechts, aber dass sie doch stärker auf der rechten Seite einschlagen, auch Formen politischer Wut und politischer Frustration. Aber warum ist das so? Warum ist das so? Ein Argument ist und das haben Sie vorhin auch schon mal benannt, dass es sozialen Wandel gibt.
Und der ist vielleicht nicht gerichtet, aber es gibt eine große Dynamik, also eine permanente Umstrukturierung der Gesellschaft. Und in dieser Gesellschaft gibt es Leute, die sind Veränderungspioniere oder können auch mit Wandel sehr gut umgehen. Und dann gibt es Leute, die sind viel, viel träger, die möchten Kontinuität, die möchten Tradition. Manchmal sind sie auch reaktionär. Und wenn man das Gefühl hat, die Gesellschaft liberalisiert sich, sie wird migrantischer, diverser.
Also es gibt ganz viele gesellschaftliche Entwicklung, die eigentlich von einem weglaufen, dann führt das für diejenigen, die sozusagen eher auf Kontinuität tradierte Lebensweisen, ist es für die eine viel größere Provokation als für diejenigen, die an der Spitze des Wandels stehen
Der Wandel geht mir nicht schnell genug. Das heißt, an diesem langsamen Ende gibt es viel, viel mehr Reaktanz. Das staut sich auf, viel mehr Frust. Das ist einfach so, der Zug fährt und man hängt irgendwie hinten dran und versucht immer wieder die Bremse zu treten. Aber er fährt so ein Stück Stück weit weiter. Dann kann es auch einen Backlash geben, wenn sich die politischen Verhältnisse so ein Stück weit ändern.
Und möglicherweise sehen wir das jetzt auch ein Stück weit in der politischen Landschaft in Deutschland und auch in Europa, dass wieder andere Kräfte so ein Stück weit die Oberhand gewinnen. Aber das sorgt natürlich für viel mehr emotionalen Stau und auch viel mehr Frust und auch viel mehr so Festhaltebemühungen bei denjenigen, die sozusagen am hinteren Ende dieses Wandlungsprozesses hängen und die sagen: Ich komme da einfach nicht mehr mit.
Und es gibt einen starken Zusammenhang zwischen dem, was ich von Veränderungserschöpfung genannt habe und politischer Wut. Leute, die veränderungserschöpft
Ich komme nicht mehr mit bei diesen ganzen Transformationen. Das ist ja nicht nur Migration. Die Digitalisierung, die Arbeitswelt wird permanent umstrukturiert, es gibt irgendwie Polykrisen an jeder Ecke dieser Welt. Das heißt, es ist auch kognitiv, sozial und emotional unglaublich anstrengend, in der gegenwärtigen Zeit zu leben und da sich zurückzuziehen und ins Schneckenhaus zu gehen und
Ich will das jetzt nicht mehr, ich will jetzt einfach mal, dass es so bleibt, wie es ist, ist vielleicht auch keine völlig unnatürliche Reaktion. Aber das zahlt natürlich bei den Populisten ein. Also die Progressiven und die Liberalen haben eben sozusagen das die politische Programmatik. Du musst dich ändern, um dich an eine sich ändernden Welt anzupassen. Das ist eine Verhaltensveränderungsaufforderung und letzten Endes auch eine Zumutung. Und die Populisten sagen genau das
Gegenteil. Alles soll so bleiben, wie es ist und du bist richtig so! Und das fällt dann natürlich auf sehr fruchtbaren Boden. Ja, ich muss gestehen, ich frage mich immer noch, was das für die politische Praxis demokratischer Parteien bedeutet. Wir haben jetzt herausgearbeitet, gerade auch am Schluss noch mal, wie stark eben Menschen subjektiv sich belastet fühlen, wie stark man deswegen eben auch mit so Triggerpunkten Emotionen freisetzen kann.
Gibt es denn wirklich eine Chance, diese Emotionen jetzt vielleicht mal in eine konstruktive Richtung zu wenden? Also dass Menschen dann
Mir reicht's alles, ich geh jetzt in die X-Partei, hoffentlich demokratischen engagiere mich oder ich gründe jetzt meine Bürgerinitiative, ich bring was voran. Oder sind automatisch immer die, ich sage jetzt mal die destruktiven Kräfte im Vorteil, die versuchen, die Emotionen einfach nur in Hass auf irgendwie als anders beschriebene Gruppen zu verwandeln?
Ja, wir leben ja in eier zumutungsreichen Welten und da muss man sich fragen: Unter welchen Bedingungen sind Leute eigentlich bereit, sich auf Zumutungen einzulassen? Eigentlich immer nur dann, wenn es politische Projekte gibt. Also Division. Ja, Division, das weiß man auch aus den ganzen Forschung, so zu Valley of tears, also dass man erst mal durch das Tal der Tränen gehen
muss. Das macht man nur, wenn man nicht in Nebel geht, sondern wenn man dahinter sieht: Es gibt dieses Tal, aber es geht dann auch wieder aufwärts. So diese Churchillrede. Ja, blood, sweet, tears and toil oder wie das hieß. Jetzt fallen wir wahrscheinlich die Historikerinnnen hinten rüber. Ja, die Rede von Winston Churchill, mit der er versucht hat, die Gesellschaft im UK im Zweiten Weltkrieg zum vollen Kriegseinsatz zu motivieren. Es kommt eine harte Zeit, aber dafür gewinnen wir dann auch.
Aber das müssen sozusagen auch Projekte sein, die in gewisser Weise eine Glaubwürdigkeit haben, die eine Art von moralischer Plausibilität haben, also dass sie irgendwie auch eine Gerechtigkeits-DNA haben. Viele Leute bremsen auch den Wandel aus, weil sie das Gefühl haben, es ist total unsicher, ob ich als Verlierer oder Gewinner daraus gehe. Und unter Bedingungen von Unsicherheit lässt man sich eben auf solche Prozesse auch nicht ein.
Manche Leute denken das auch zu Recht, dass sie vielleicht ökonomisch nicht zurechtkommen oder sich verändernden Bedingungen und wehren dann dass das ab.
Das heißt, wir brauchen eigentlich ein politisches Projekt, das irgendwie eine Art von Bindungskraft freisetzen kann, das eine Art von auch von zeitlicher Struktur hat, also dass man irgendwie das Gefühl hat, das Paradies liegt jetzt nicht in 70 Jahren, wo ich schon Asche bin und unter der Erde liege, sondern das ist irgendwie in einer Reichweite.
Und es muss deswegen moralisch plausibel sein, weil nur wenn das gegeben ist, wenn es irgendwie eine Gerechtigkeitsidee eines Projektes ist, haben Leute auch das Gefühl, auch alle anderen haben Gründe, um sich daran zu beteiligen. Also das ist ganz wichtig, dass man solche Gerechtigkeitsformeln, um abzusichern, dass es überhaupt zu so etwas kommt wie einem kollektiven organisierten Handel, weil sonst, wir haben ja immer individuell das Gefühl, es gibt ganz viele Trittbrettfahrer.
Warum mache ich jetzt nur mit beim Klimaschutz und alle anderen machen es nicht? Das heißt, das muss eigentlich Teil eines solchen politischen Projekts sein. Haben Sie da ein Beispiel? Also sei es jetzt aus der Vergangenheit, wo es funktioniert hat oder vielleicht auch aus der Gegenwart, wo Sie sagen, da sehe ich so einen Nukleus? Na ja, ich denke mal, man muss so etwas schaffen wie so ein so sense of ownership, also das Gefühl, man ist nicht nur Leidender oder Betroffener von Projekten.
Wir sehen das so bei der sozialökologischen Transformation, dass Leute eher bereit sind, da mitzumachen, wenn es so etwas gibt wie Formen der Teilhabe. Also es macht eben einen Unterschied, ob eine Windkraftanlage von einem Investor aufgestellt wird oder von einer Kommune, und die dann hinterher sagt, es gibt jetzt 40 Jahre Bürgerstrom, da hat man sofort die Bereitschaft.
Bei anderen hat man dann vielleicht Demonstrationen, gründet sich eine Bürgerinitiative, um das abzuwehren, obwohl das vielleicht jetzt genau dasselbe ist von der physischen Einrichtung und von der baulichen Situation usw, aber da hat man, schafft man eben Prozesse der Teilhabe und über so was muss man nachdenken. Ich glaube, die Gerechtigkeitsfrage ist eine Kernfrage, wenn wir in Transformationen hineingehen.
Ansonsten springen viele Leute ab und wissen auch gar nicht genau, wozu sie das eigentlich mitmachen sollen. Also eine Vision brauchen wir. Und es muss dann auch noch eine gerechte Vision sein, wo die Menschen das Gefühl haben, Anstrengung lohnen sich, weil das Ziel zum einen gut ist und zum anderen auch noch fair. Und weil alle anderen mitmachen.
Und wenn alle mitmachen. Da frage ich mich natürlich so ein bisschen jetzt etwas zugespitzt, ist Olaf Scholz dann die richtige Person zur richtigen Zeit? Ich meine, er ist ja nun wirklich, wie soll ich sagen, das Musterbeispiel dafür, im Zweifel gerade keine Visionen zu haben und sie jedenfalls nicht zu kommunizieren. Ja, ich bin ja Soziologe und für Strukturen verantwortlich und zum Glück nicht für Personen. Stellen wir uns den abstrakten Typus vor.
Nein, ich meine, ich meine, ich würde es gar nicht als Diss an Olaf Scholz markieren. Sie können es auch abstrakter machen. Ich meine, Angela Merkel war ja auch bekannt für 16 Jahre Politik der ruhigen Hand. Sie hat auch nur in absoluten Ausnahmefällen, ich sage mal Ruckreden gehalten. Aber die hat auch keinen Wandel moderiert. Na gut, ich meine ja, sie hätte sollen, sage ich jetzt mal, würde ich gegenhalten. Sie hätte besser
getan. Sie hat natürlich mit der mit der Union, die die Herausforderung des Klimawandels komplett ausgeblendet. Aber ich meine, wir leben deswegen ja schon seit fast 20 Jahren, wo jedenfalls aus dem Bundeskanzleramt keine Visionen irgendeiner Art vorgegeben wird, oder wie würden Sie das interpretieren? Ja, mir ist die Politik auch zu inaktiv. Ist auch sozusagen in der öffentlichen Kommunikation, in der Adressierung der breiten Gesellschaft zu wenig.
Ich glaube, die Gesellschaft ist zu mehr bereit, als es oft scheint.
Ich glaube, wir haben jetzt auch in den Demonstrationen in den letzten Wochen gesehen, dass es doch auch eine breite, mobilisierbare gesellschaftliche Mitte gibt, die lange sehr still war und zögerlich war, sondern die jetzt irgendwie sagt okay, wenn die Politik das nicht leistet, dann müssen wir das eben leisten, dann müssen wir eben aktiv werden, dann müssen wir eine Öffentlichkeit herstellen, dann müssen wir die Plätze erobern und das findet
jetzt statt. Ist auch eine Ermunterung an die Politik, ein Stück weit aktiver zu werden. Aber man müsste jetzt wahrscheinlich sehr detailgenau noch diese Konstellation der Ampel mit erläutern, um zu sehen, in welchen Zwängen sich diese Parteien jeweils programmatisch befinden, wie schwierig das Moderieren ist, dass es auch Fliehkräfte innerhalb der Ampel gibt, die kaum zu bewältigen sind. Offensichtlich. Und wechselseitige Blockaden.
Es gibt ja andere Länder, wo wir Erfahrung mit Minderheitsregierungen haben, auch mit Mehrparteienkoalition. Das ist in Deutschland nicht eingeübt. Wir haben jetzt die erste Koalition, die so was macht. Auf der Länderebene hatten wir das natürlich schon, aber auf der Bundesebene noch nicht. Und ich glaube, wir sind da noch in so einer Übungsphase. Wir müssen da besser werden.
Denn wenn jede Partei nur sehr kleinteilig versucht, ein Vetorecht geltend zu machen und sich fast ideologisch an sehr spezifische Projekte und Formeln klammert und auch im Prinzip Klimmzüge zur programmatischen Erneuerung unterlässt, finde ich fast fahrlässig. Also ich will jetzt keine Beispiele nennen, aber Sie haben die alle wahrscheinlich im Hinterkopf. Dann glaube ich, ist es schon zum Schaden unseres Landes. Also als positiven Ausstieg nehme
Sie sagen als Soziologe, basierend auf Messung die Bevölkerung ist zu mehr Wandel bereit. Ja, es ist nicht einfach, aber sie ist motivierbar. Und die Frage ist nur, Schafft es die Politik, eine solche Erzählung zu formulieren? Ja, das weiß ich nicht, ob sie das schafft. Ich weiß auch nicht, vielleicht ist auch die Zeit der großen Erzählungen vorbei. Es ist unglaublich schwierig geworden, Politik zu machen. Die Zwänge sind enorm.
Einzelne Politiker oder auch Regierungsmitglieder können einfach auch wenig machen. Wenn man sich jetzt die ganzen globalen Konstellationen anguckt, überall brennt es, permanent hat man das Gefühl, kaum hat man sich mit dem Bettdeck zugedeckt, schon wird es schon wieder weggerissen von irgendjemand. Also es sind auch unglaublich schwierige Bedingungen. Ich glaube, was man noch besser machen müsste in der Politik, ist auch das Erklären, wie Politik überhaupt zustande kommt.
Also wir haben ja häufig Legitimation, die aus bestimmten politischen Outputs heraus generiert wird. Also die Politik ist irgendwie leistungsfähig, stellt bestimmte Dienstleistungen zur Verfügung, macht bestimmte Dinge und dann stimmen die Leute zu. Aber unter den Bedingungen, die wir heute haben, glaube ich, muss man viel, viel stärker noch mal zeigen, wie schwierig ist es, überhaupt zu bestimmten Kompromissen zu kommen. Da hat sicher auch was mit der journalistischen Rezeption zu tun,
Wer hat gewonnen, wer hat verloren? Kompromiss ist erst mal was ganz Wunderbares. Und ich finde, wenn die Akteure sich dazu bekennen können, dann sollte das eigentlich nicht zu ihrem Schaden gereichen. Ganz herzlichen...Achso! Also man denkt natürlich, man assoziiert die ganze Zeit. Das ist natürlich irgendwie auch eine Chance, diese ganze Emotionalisierung, wenn Sie sagen, wir brauchen eine Vision, eine Vision ist natürlich und Leute mitzunehmen ist natürlich was unglaublich Emotionales.
Und insofern Sie sagen, die Politik ist so schwer geworden. Ich würde aber behaupten, wenn Politiker Politikerinnen es schaffen, die richtigen Worte in die richtige Kamera zu sprechen und das richtig zu erklären, dann kann sich das auch so schnell verbreiten und emotionalisieren, wie das noch nie in der Geschichte der Fall war.
Und man kann, wenn man es schafft, den richtigen Ton zu treffen und die richtige Vision zur richtigen Zeit in die richtige Kamera zu sprechen, glaube ich, eine Menge bewegen. Und viel mehr als man das 1970 in der Tagesschau konnte, würde ich mal behaupten. Ja, mein Schlussplädoyer. Da will ich nicht widersprechen. Okay, wir versuchen mit letzter Kraft dem Ganzen noch eine konstruktive Note zu geben. Denn das ist ja so ein bisschen unser Markenzeichen in der Lage.
Wir wollen ja die Menschen, wenn es irgendwie geht, nicht im Regen stehen lassen. Gerade auch emotional nicht, denn Sie sagen es, Professor Mau, es sind harte Zeiten. Ganz herzlichen Dank für dieses Interview. Vielen Dank, dass Sie für uns Zeit hatten. Ich fand es sehr, sehr spannend. Wir danken, dass Sie da waren und würden wir sagen Bis bald und... Bis nächste Woche. Winke, winke. Danken fürs Zuhören und ihr wisst, wo ihr Kommentare
loswerden könnt. Das ist bei uns im Forum unter Talk.LagederNation.org. Und wenn ihr euch bedanken wollt für diese Sendung, dann schenkt uns einfach Sterne in der Apple Podcast App oder in der Podcast App eures Vertrauens. Bis bald. Tschüss. Tschüss.